Es ist schwer zu übersehen – der transatlantische Traum von einer „ordnenden Dominanz“ der „westlichen Wertegemeinschaft“ ist zunehmend ausgeträumt. Mehr als zwei Jahrzehnte der Ausdehnung dieser Werteallianz haben nicht nur Millionen von Toten im nahen und mittleren Osten, einen neuen Rüstungswettlauf in Europa und eine wieder größer werdende Gefahr eines heißen Konflikts hinterlassen – sie haben, auch durch Ausgrenzung Russlands und Chinas, durch mehr oder weniger offene „Regime-Changes“, durch die Zerstörung von Vertrauen, den Traum vom einem gemeinsamen europäischen Haus, der die Zeit nach dem Ende des kalten Krieges beflügelte, ein unwürdiges Ende bereitet.
Dabei ist gerade die friedensschaffende Wirkung von geregelten zwischenstaatlichen Bindungen, wie sie erst die europäische Gemeinschaft und dann die EU etablierte, der Bereich des europäischen Gedankens, der wohl am wenigsten zur Debatte steht: Völker, die sich früher kriegerisch oder feindselig entgegenstanden, wurden zu Partnern in einem gemeinsamen Verbund. Wo früher Säbelrasseln und Krieg ein legitimes Mittel zur Durchsetzung politischer Interessen war, wurden politischer Dialog und friedliche Koexistenz zu einer Selbstverständlichkeit. Die ehemaligen „Erbfeinde“ Deutschland und Frankreich wurden zu Partnern, die ihre Differenzen im politischen Dialog lösen.
Im Rahmen des transatlantischen Traums nach Ende des kalten Krieges kam der friedensstiftende Aspekt von zwischenstaatlicher Integration zunehmend unter die Räder. Die EU wird zunehmend, auch ihrem Selbstverständnis nach, zu einem Bollwerk: Flüchtlinge werden mehr und mehr mit militärischen Mitteln und Abschottung von einem Betreten europäischen Bodens abgehalten, gemeinsame militärische Strukturen und Aufrüstung verdrängen zunehmend den Gedanken der friedlichen Koexistenz.
Diese Entwicklung führt vielleicht (wenn überhaupt) weiter in Richtung eines Staates namens EU, aber um welchen Preis: Eine gemeinsam handelnde EU, die bereit ist, ihre Interessen mit wirtschaftlichem und politischem Druck und militärischen Mitteln durchzusetzen, bewegt sich damit als Gesamtheit auf die politischen Vorstellungen zu, die den früher in Europa üblichen, verfeindeten Nationalstaaten zu eigen waren. Dass dies nur zu häufig mit vermeintlich moralisch hehren Zielen begründet wird, ändert daran wenig.
Die Idee, dass Europa in einer globalisierten Welt als gemeinsame politische und militärische Macht anstelle der vorher etablierten Nationalstaaten agieren könne, ist ein ebenso gefährlicher Irrweg, wie die Macht- und interessengeleitete Politik der europäischen Nationalstaaten bis zur zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, die der Welt zwei verheerende Kriege bescherte. Die gemeinsame Landmasse, zu der Europa gehört, heißt „Eurasien“. Sie beherbergt mehr als fünf Milliarden Menschen, davon nur etwas mehr als 500 Millionen in der EU – das sind gerade einmal zehn Prozent, Tendenz des EU-Anteils: Fallend. Da die globalen Probleme wie Überbevölkerung, Umweltverschmutzung, Klimawandel und Artensterben nicht innerhalb der EU gelöst werden können, ist der Weg von Abgrenzung und Drohung, den die EU gegenüber dem weitaus größten Teil des gemeinsamen Kontinents einschlägt, eine offensichtliche Sackgasse.
Die transatlantischen Bemühungen um eine von den USA und Europa dominierte Weltordnung haben längst zu einer faktischen Spaltung Eurasiens geführt. Hervorgegangen aus den „Shanghai Five“ Mitte der 90er Jahre, wächst die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) wirtschaftlich wie militärisch zu einem immer stärker werdenden Gegengewicht zum europäisch/amerikanischen Dominanz-Anspruch heran.
Die SOZ gibt sich selbst folgende Ziele:
- die Stärkung des Vertrauens unter den Mitgliedstaaten
- die Mitwirkung und Zusammenarbeit auf politischen, wissenschaftlich-technischen, kulturellen, touristischen und ökologischen Gebieten, im Bereich des Handels, der Energie und des Transports
- die gemeinsame Gewährleistung und Unterstützung von Frieden und Sicherheit in und zwischen den Regionen der Mitgliedsländer
- Lösung und Beilegung von Konflikten
Diese Ziele unterscheiden sich kaum von denen, die nach dem zweiten Weltkrieg wenigstens teilweise zur Verwirklichung des europäischen Gedankens führten.
Wir Grünen fordern eine europäische Annäherung an die SOZ. Sie bietet Chancen, die über die Bewahrung des Friedens weit hinausgehen: Sie kann den Weg freimachen für eine gesamteurasiche Völkerverständigung, für einen gemeinsamen Ort zum Leben der Menschen vom Atlantik bis zum Pazifik. Sie kann den Weg freimachen für eine gemeinsame Verantwortung des Kontinents für das globale Überleben der Menschheit. Staaten wie China und Indien sind sich z.B., trotz aller Widersprüche, der Wichtigkeit des Erhalts der menschlichen Lebensgrundlagen durchaus bewusst, wie z.B. der Weg Chinas beim Ausbau der regenerativen Energiequellen deutlich zeigt. Aus einer solchen Partnerschaft würde die Chance zu einer gemeinsamen, regenerativ geprägten Energiepolitik, zu einer gemeinsamen Strategie zur Bewältigung der Überbevölkerung, zur wissenschaftlichen und kulturellen Zusammenarbeit erwachsen.
Transatlantische Alternative: „America First“ unter Missachtung europäischer Interessen.
Soll diese Perspektive vom „gemeinsamen Haus Eurasien“ nicht nur ein Traum bleiben, so muss die EU nicht nur ihre Vorstellung von einem „Nationalstaat Europa“ im Sinne traditioneller Großmachtpolitik aufgeben, sie muss vor allem die vermeintliche moralische Überlegenheit europäischer Werte als das erkennen, was sie tatsächlich ist: Eine postkolonialistische Attitüde. Die Folgen des europäischen Kolonialismus sind vielen Völkern Asiens noch bewusst, sind doch viele Grenzziehungen und andere politische, kulturelle und wirtschaftliche Entwicklungen direkt oder indirekt immer noch mit dem europäischen Weltordnungswillen des 19. und 20. Jahrhunderts verbunden. Dieses Denken endlich abzulegen und durch eine realistische Einschätzung der eigenen Rolle in Eurasien und der Welt zu ersetzen, kann sowohl für die Entwicklung der europäischen Kultur wie auch der eurasischen Zusammenarbeit nur befruchtend sein.
Wir GRÜNE wehren uns gegen die Angst vor dem Fremden, nur vermeintlich Übermächtigen, gegen eine Rüstungslogik, die die Saat der eigenen Vernichtung in sich trägt. Wir wollen keinen Demokratieexport und Regime-Change gemäß den Vorstellungen einer westlichen Weltordnung. Wir wollen stattdessen den Weg gehen, den Menschen wie Michail Gorbatschow oder Olof Palme für Europa aufzeigten: Den Weg der Völkerverständigung, der Kooperation, des Interessenausgleichs, der gemeinsamen Verantwortung – den Weg der EU in Richtung eines gemeinsamen Hauses Eurasien.
Angelika Wilmen
Gerd Kauschat
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