Gastbeitrag von Ralph Krolewski, 26.3.2016
Die aktuellen Entwicklungen führen zu einem fortwährenden auch in den Medien transportierten Rechtfertigungsdruck auf die in Deutschland lebenden Muslime, ihr Verhältnis zum Rechtsstaat, zur
Demokratie und zur Gewalt zu klären und eine behauptete Unklarheit dazu befeuert die öffentlichen populistischen Aktivitäten, den Islam unter Generalverdacht zu stellen als Ursache für Radikalisierung und Gewaltbereitschaft.
Das ist völlig unberechtigt und geht an der Empirie zur Friedfertigkeit der in Deutschland lebenden Muslime und ihrer Zustimmung zu unserem Rechtsstaat und den Menschenrechten völlig vorbei, belegt in mehr als 100 Untersuchungen zwischen 2006 und 2012, auch als ein Ergebnis des Zusammenlebens innerhalb von 40 Jahren, bekräftigt durch den Zentralrat Muslime in Deutschland (ZMD) u. dargestellt 2002 in der “Islamischen Charta”.
Aus der Selbstdarstellung des ZMD:
“Der ZMD, vormals als “Islamischer Arbeitskreis” wurde 1987 gegründet und umfasst heute neben Zivilorganisationen rund 300 Moscheegemeinden. Die Zusammensetzung des ZMD bildet die ganze Vielfalt der Muslime in Deutschland ab. So sind im ZMD Türken, Araber (Marokkaner), Deutsche, Albaner, Iraner, Afrikaner und Bosnier u. v. a. m. sowie Sunniten und Schiiten integriert, was sich auch im theologischen Sinne niederschlägt. Die Vereinssprache ist deutsch. Vorstand und Gremien besitzen einen beträchtlichen Frauenanteil – etwa ein Drittel. Ein Beirat aus Personen wie z.B. Yusuf Islam, Murad Wilfried Hofmann, Bodo Rasch oder Nadeem Elyas u.a., oder die verstorbene Annemarie Schimmel oder Abdoldjavad Falaturi, arbeiten dem Vorstand zu.
Der ZMD und seine Mitglieder betrachten sich als Teil dieses Landes und dieser Gesellschaft. Wir sind hier beheimatet. Die Integration des Islam und der Muslime in die deutsche Staatsordnung und die Gesellschaft ist eine unserer größten Herausforderungen und Anliegen. Deswegen schickte sich der ZMD an seine Satzung und Struktur dem föderalen Gegebenheiten des Landes anzupassen. Inzwischen haben wir in Hessen und NRW, Berlin, Niedersachsen und Rheinlandpfalz unsere Landesverbände gegründet, weitere werden folgen. Als Teil des deutschen Volkes in Deutschland fühlen wir uns allen Problemen und Themen der Gesamtgesellschaft gegenüber verpflichtet, das gilt auch für Deutschlands Geschichte und sein Selbstverständnis als Staat in der Welt. ”
Als Teil des deutschen und damit auch des europäischen Staatsvolkes !
Dazu s. auch das aktuelle sehr gute und fachkundige Buch von Daniel Bax “Angst ums Abendland”. Bax ist Journalist bei der taz und dezidierter Kenner der deutschen Szene und hat Islamwissenschaften studiert. Er äußert sich in seinem Buch auch dezidiert zu den Christenverfolgungen in islamischen Staaten: in den betroffenen Staaten sind ebenfalls andere religiöse Minderheiten massiv betroffen. Diese Verfolgungen sind Ausdruck autokratischer gewalttätiger Systeme in Afrika u. anderswo und nicht Ausdruck
der Gewalttätigkeit des Islams an sich.
Die gültige Auslegung des Islam unterliegt unter einem komplexen Regelwerk nur vier Rechtsschulen bei Durchführung eines komplexen Procedere. Das zitieren einzelner Suren (Ping-Pong-Islam) und willkürlicher oder personenzentrierter Auslegungen oder sektiererisches Vorgehen einer einzelnen “Schule”, z.B. des Wahabismus, hat niemals die Autorität des Islams. Dieser ist ähnlich komplex wie die vatikanische Lehre.
Der Wahabismus in Saudi-Arabien mit Moscheegemeinden in Europa ist allerdings extrem konservativ und scharia-orientiert, umfasst allerdings nicht “die Autorität” im Islam (dazu s.u.). Cem Özedmir hat diesen Wahabismus in mehreren Beiträgen angegriffen und ihm den liberalen Islam seiner Eltern und Großeltern gegenübergestellt und scharf kritisiert, dass über die wahabitischen Moscheegemeinden salafistisches Gedankengut in Deutschland verbreitet wird. “Wer ist ein Salafi und ist der salafistische Ansatz gültig?” Dazu s.: https://www.madrasah.de/leseecke/
Der Autor hat eine umfangreiche Ausbildung und Studiengänge in Europa und an einer der führenden islamischen Universitäten mit Rechtsautorität und arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Uni Osnabrück am Zentralinstitut für Islamische Theologie (ZIIT), welchem innerhalb der deutschen Lehrstühle eine besondere Bedeutung zukommt: https://www.islamische-theologie.uni-osnabrueck.de/
Auf der Plattform “Madrasah” ist ebenfalls der offene Brief von 120 führenden islamischen Rechtsgelehrten, die die islamische Rechtsmeinung repräsentieren- darunter sehr konservative
Schulen- an die IS-Führung von 2014 veröffentlicht, in die Taten des IS u.a.auch gegenüber Christen als verbrecherisch bezeichnet werden und in keiner Weise durch den Islam gedeckt mit dezidierter
Auflistung der Grundlagen aufgeführt werden. Diese Quelle habe ich durch das Buch von Dax gefunden. Auch in dieser Quelle wird darauf hingewiesen, dass es hinsichtlich der
Beurteilung von Menschen und der daraus abgeleiteten Handlungen keinerlei “Selbstmandatierung ” geben darf , auch nicht einzelner Schulen. https://www.madrasah.de/leseecke/
Alle diese Quellen sind scheinbar in den deutschen Medien und in der öffentlichen Diskussion unbekannt .
Die islamischen Rechtsexperten fordern eine Anerkennung des jeweiligen staatlichen Systems , welches auch in der Erklärung und Charta des ZMD zum Ausdruck kommt.
Im Islam gibt es ebenfalls eine tiefe Anerkennung des Christentums als abrahamitische Religion aus den gleichen Wurzeln. Wenn Papst Franziskus jetzt zu Ostern nicht nur die Flüchtlinge als Brüder willkommen heißt sondern auch entsprechende Botschaften an die Muslime sendet, ergibt sich das nicht nur aus einem einseitigen Verständnis und Glaubensüberzeugung.
In der französischen Presse tauchen jetzt Artikel zu den Desintegrationserfahrungen der Immigranten aus Nordafrika auf, die sich vorwiegend im ehemals” französischen Ruhrgebiet” in Nordfrankreich angesiedelt haben und nach Niedergang der Kohlen- und Stahlindustrie mit Aufrechterhaltung ihrer spezifischen Parallelgesellschaft und über Generationen im narrativen Kontext traumatisierender Erfahrungen nach Belgien umgesiedelt sind. Zu diesen Milieus, aus denen offensichtlich etliche Attentäter stammen, haben die belgische Polizei und Politik wenig Zugang . Im europäischen Vergleich kommen aus Belgien relativ die meisten europäischen IS-Aktivisten als Ergebnis einer jahrzehntelangen Desintegrationserfahrung
und Radikalisierung über selbsternannte Koran-Autoritäten mit Anbindung an den saudi-arabischen Whabismus, der die größte Moschee in Brüssel betreibt. Im Umfeld dieser Szene haben sich über Jahre Radikalisierungen ereignet.
Le Monde” der Historiker Pierre Vermeren (Fachgebiet Geschichte des Maghreb) von der Sorbonne, Paris:
“Pour l’historien Pierre Vermeren, « les Belges n’avaient aucune connaissance préalable des Maghrébins et, soucieux de leur souveraineté, ils n’ont pas laissé les policiers français et marocains surveiller leurs immigrés. La classe politique belge, aussi indifférente que la française aux questions religieuses, a laissé prêcher Iraniens et Saoudiens… estimant que l’on pouvait traiter socialement et politiquement la question, grâce à des élus communautaires. La Belgique n’a pas réuni les moyens que les Néerlandais ont mis en œuvre pour intégrer leurs immigrés.”
Eigene Übersetzung:
“Die Belgier hatten keine wirkliche Kenntnis von den aus dem Maghreb stammenden Leuten und aus Sorge um ihre Souveränität haben sie die französische und marokkanische Polizei nicht die Einwanderer überwachen lassen. Die politische belgische Klasse , die sich genauso wie die französische gleichgültig gegenüber religiösen Fragen zeigte, ließ Iraner und Saudis predigen… in der Einschätzung, dass man sozial und politisch die Fragen auf kommunaler Ebene behandeln könne. Belgien hat nicht wie die Niederlande die Maßnahmen zur Integration ihrer Migranten entwickelt.”
In der Folge beschreibt Vermeren die brutalen Erfahrungen der Migranten aus dem Rif im Zeitraum des 20. Jhdt.: Kriege mit Senfgas- und Napalmeinsatz durch die Kolonialmächte 1912 bis 1958, in der Nachfolgezeit unter Hassan II massiv unterdrückt und ohne jegliche Invstitionen in die Infrastruktur und Bildung.Von den 700.000 Migranten muslimischer Herkunft in Belgien stammen 500.000 aus Nordafrika (Maghreb) und davon eine nicht unbedeutende Zahl aus dem Rif-Gebiet mit den o.a. traumatisierenden Erfahrungen aus Unterdrückung, Bekämpfung, Hunger und der systematischen Benachteiligung eines autokratischen islamischen Systems (der König sieht sich in der direkten Nachfolge des Propheten Mohammed). Diese komplexe Unterdrückung wurde erst 1999 beendet.
Vermeren:
“Radicalisés, ruminant leur malheur, hostiles au makhzen et aux anciens Etats coloniaux, ….. les Rifains s’enferment dans leur langue propre, dans leurs familles et dans leur clans, dans leurs réseaux marchands et mafieux. Quand Mohammed VI se tourne vers eux au début de son règne, il est bien tard.”
Eigene Übersetzung:
“Radikalisiert, durch ihr Unglück geprägt, feindselig gegenüber dem marokkanischen Staat und den alten Kolonialmächten (Frankreich,Spanien), die aus dem Rif stammenden Migranten schließen sich in ihrer eigenen Sprache, in ihren Familien und in ihren Clans und in ihren eigenen Handels- und mafiösen Strukturen ein .” (https://www.lemonde.fr/idees/)
Belgien ist derzeit das europäische Land mit der höchsten Desintegration von Migranten hinsichtlich von Schulausbildung und negativer Zukunftsaussicht: 28% der Migrantenkinder verlassen die Schulen ohne Bildungsabschluss und die Migrantenquartiere in Brüssel sind die ärmsten Kommunen in Belgien.
Es wird von einer innerbelgischen “Apartheid” gesprochen.
Mit Sicherheit müssen der politisch-religiöse Dialog , Integrations- und Sozialpolitik verbessert werden. Für Deutschland bedeutet das ein weiteres aktives Aufeinanderzugehen
und Integrationsbemühungen gegenüber den Flüchtlingen aus traumatisierenden Erfahrungen in ebenfalls aktiver Zusammenarbeit mit dem ZMD:
Aufgrund der gegebenen Vorurteile, dem fehlenden Wissen und den daraus entstehenden Reaktionsbildungen präsentiert sich aktuell auch in Deutschland der Rechtspopulismus via AfD relativ stark
auf dem Boden eines relativ starken Anti-Islamismus in Deutschland im europäischen Vergleich.
Einige weitere Hintergrundinfos:
Die belgische Journalistin Hind Fraihi hat monatelang undercover in Molenbeek gelebt und 2006 Berichte über die Radikalisierung geschrieben und diese später zu einem Buch zusammengefasst. https://www.washingtonpost.com/news
Im November 2015 wurden nochmals die spezifischen Bedingungen im Umfeld von Molenbeek beschrieben, hier ein Artikel aus der Washington Post:
https://www.washingtonpost.com/world
Aktuelles Interview mit Hind Fraihi (französisch) über das Wegsehen der belgischen Behörden, die Salafisierung des Stadtteiles (geschätzter Anteil: 10%) und Entwicklung des “Gangster-Islam”
in kleinen Gruppen und Radikalisierung über den Syrien-Konflikt sowie ein Peace-Agreement des Molenbeek-Bürgermeisters Philippe Moureux im Vorfeld einer Kommunalwahl mit den
Islamisten:
https://www.parismatch.com/Culture/
https://www.facebook.com
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