Was sind die gilets jaunes?

Ralph Griesinger, Osnabrück, hat am 5.12. über den BAG Soziales-Verteiler eine sehr informative Mail zur aktuellen Entwicklung geschrieben, die wir mit seiner freundlichen Genehmigung hier wiedergeben. Eine aktuelle Ergänzung vom 16.12. findet ihr am Ende des Textes. 

Eindrücke aus Frankreich

Liebe Freundinnen und Freunde,

gerade aus Frankreich zurückgekehrt, bin ich erstaunt über die völlig unzureichende Information in den hiesigen Medien über die Bewegung der “gilets jaunes” (= gelbe Westen, nach ihrem gemeinsamen Kennzeichen). Die vorherrschende Ansicht, auch unter links- bzw. sozial engagierten Menschen, scheint zu sein, dass es sich hierbei um eine egoistische Bewegung von Kleinbürgern handelt, die sich hauptsächlich gegen höhere Dieselsteuern wenden, unterstützt von Rechtsradikalen.

Von Vertretern der Grünen habe ich noch keine Stellungnahme gehört, auch hier scheint Ratlosigkeit zu bestehen.

Ratlos macht die, zumindest für Mitteleuropa, völlig neuartige Struktur und die gesellschaftliche Breite dieser Bewegung. Daher möchte ich hier über meine Eindrücke berichten.

Was wollen die gilets jaunes?

Anlass waren in der Tat die seit Frühjahr 2018 stark erhöhten Diesel-Steuern. Der Preis für Diesel liegt aktuell bei ca. 1,60 € und damit etwa 3 bis 5 ct höher als Super 95. Eine weitere Erhöhung um ca. 6 ct. sollte ab 1.1.2019 gelten (die aber gerade zurückgenommen wurde). Das heißt, dass seit Anfang Jahr der Dieselpreis um ca. 30 ct./Liter gestiegen ist. Auf dem Land, wo die Leute bis zu 8 0km Arbeitsweg haben und es meist keine ÖNPV_Alternativen gibt, bedeutet das Mehrkosten von über 50 €/Monat, die gering bezahlte Arbeitnehmer nicht mehr aufbringen können. Der  Mindestlohn (SMIC) beträgt 9,88 €/Stunde, das sind ca. 1.500 € mtl. brutto oder 1.250 € netto. Mieten und Lebensmittel sind je nach Region eher höher als in Deutschland. Da muss man wohl nicht groß erklären, was das bedeutet.

Inzwischen haben sich eine ganze Reihe Forderungen herauskristallisiert:
– Erhöhung des Mindestlohns (SMIC) um 200 bis 500 €,
– eine Mindestrente von 1.200 €,
– Steuersenkung,
– Rücknahme der Vermögenssteuer-Senkung für die Reichen,
– Kostenloser Nahverkehr, Wiederverstaatlichung der Autobahnen usw.

Ist das eine soziale Bewegung?

Eindeutig ja. Diese Einschätzung ist inzwischen unstrittig (wenn man von eingefleischten Macron-Funktionären absieht). In den zahlreichen Fernseh-Diskussionen mit Sprechern der “gilets jaunes” (die man letzte Woche jeden Abend stundenlang auf allen Nachrichtenkanälen verfolgen konnte), wurde immer wieder und drastisch die elende finanzielle Lage der Geringverdiener, Scheinselbständigen und vieler Rentner betont. Bezeichnend der weit verbreitete Disput mit der LREM-Abgeordneten Elise Fajgeles, die die Höhe des SMIC nicht kennt: Man braucht kein Französisch, um zu verstehen, worum es hier geht und wie die Stimmung ist!

Sind die die gilets jaunes gegen Klimaschutz?

Nein, aber sie wenden sich gegen eine Steuererhöhung, die vor allem Geringverdiener trifft. Die Erhöhung der Dieselsteuer wurde ohne Ausgleich eingeführt, abgesehen von der Senkung der Vermögenssteuer!

Wer steht hinter den die gilets jaunes?

Niemand, und es gibt auch keine Leitung, das ist ja gerade das einzigartige. Die Bewegung hat sich faktisch aus dem Nichts und über facebook verbreitet. Es haben sich zwar irgendwie acht Sprecher*innen gefunden, die aber kein Verhandlungsmandat haben. Macron hatte sich letzte Woche  bereit gefunden, zwei dieser Vertreter  vorzulassen. Dann ist aber einer gleich wieder gegangen, weil das Fernsehen nicht dabei sein durfte. Damit war die Sache erledigt.

Dass es keine Vertretung gibt, die mit der Regierung verhandeln könnte, ist einerseits eine Stärke, weil dann auch niemand unter druck gesetzt oder anders beeinflusst werden kann, kann sich aber auch zu einer Schwäche entwickeln, weil niemand voraussehen kann, wie lange die menschen ihre Aktionen durchhalten.

Werden die von den Rechtsnationalen unterstützt?

Ja, das ist das Kritische dabei, was viele Linke abstößt. Marine Le Pen spielt sich zu einer Fürsprecherin auf. Mein Eindruck (der von vielen geteilt wird), ist aber, dass  sich da “einfache Leute” zusammenfinden auf Basis der o.a. Forderungen. Die haben jedes Vertrauen in Politiker und Gewerkschaftler verloren. Das hängt auch damit zusammen, dass die breite Bewegung der Gewerkschaften gegen die Arbeitsmarktgesetze und die Streiks der Eisenbahner erfolglos blieb, genauso wie vor den Wahlen die Bewegung “La France insoumise“.

Man kann das auch so sehen, dass den Leuten jetzt endgültig der Kragen geplatzt ist.

Die (immer noch stärkste, der PCF nahestehende) Gewerkschaft CGT unterstützt die Forderungen der gilets jaunes, auch Mélenchon und andere Linke.

Die gilets jaunes wollen aber bisher noch keine gemeinsamen Aktionen. Aktivisten der CGT reden hier von einem Prozess der Übereinstimmung (“convergènce“), der noch Zeit braucht.

So gab es z.B. in Nizza am 2.12. erst eine Demo der gilets jaune, die stundenlang den Zubringer zum Flughafen blockierte (immerhin der zweitgrößte in Frankreich) und dann eine Demo der CGT, unterstützt von der dort noch immer aktiven PCF. Beide hatten im Wesentlichen die gleichen Forderungen und waren auch etwa gleich stark. Als die CGT-Demo dann auf die verbliebenen Aktiven der gilets jaunes traf, guckten die zunächst etwas desinteressiert, hörten dann aber doch zu und applaudierten.

Nicht zu vergessen dann noch die Aktionen der selbständigen Krankenschwestern für bessere Bezahlung, der inzwischen sehr aufrührerischen SchülerInnen für mehr Studienplätze und bessere Arbeitsaussichten, der Lehrer*innen, der Feuerwehrleute usw., die zwischendurch auch noch stattfinden.

Wie sind die Auswirkungen der Aktionen?

Wirtschaftlich schon erheblich: Der Umsatz in den großen Einkaufszentren ist eingebrochen, weil die blockiert werden oder die Leute gar nicht erst hinfahren, in den Supermärkten leeren sich sichtbar die Regale mit Wurst und Käse, zahlreichen Tankstellen geht der Sprit aus, was jetzt durch Hamsterkäufe verstärkt wird, und es gibt mehr Staus auf den Autobahnen. (Autobahnen zu blockieren ist ja sehr einfach, man braucht sich nur vor die Zahlstellen zu stellen. Dafür müssen die Autofahrer*innen dann nichts bezahlen, weil die Kameras abgedeckt werden.)  Diese Aktionen werden meist nur von kleinen Gruppen durchgeführt, aber sehr zahlreich über das ganze Land verstreut. Die Polizei verzichtet in der Regel darauf, gegen die Aktivisten einzuschreiten, steht meist nur daneben und regelt den Verkehr.

Was passierte in Paris am 2.12.?

Der Umfang der Ausschreitungen ist einfach unfassbar, so was hätte ich in der EU nicht für möglich gehalten. Das waren nicht nur Plünderungen einzelner Läden, wie es schon öfter vorgekommen ist, das waren gezielte Angriffe auf die Symbole des Staates und des Reichtums. Es gibt wie immer den Verdacht, dass die Angriffe von Provokateuren angeheizt wurden (so äußert sich z.B. aktuell der Vorsitzende der rechten Kleinpartei “Debout la France“, Dupont-Aignan, der behauptet, die Randalierer (“Casseurs“) seien vom Innenminister Castaner vorgeschickt worden.) Dagegen spricht, dass es einfach zu viele waren. Wenn die Provokationen geplant sein sollten, ist das gründlich in die Hose gegangen.

Es gibt Berichte, dass zuvor die Stadtpolizei nicht gegen die gilets jaunes vorgehen wollte (in einer Fernsehdiskussion fiel der Begriff “fraternisé“, dem niemand widersprach), um dann der für ihre Brutalität berüchtigte Sonderpolizei CRS das Feld zu überlassen, die den gilets jaunes den Fluchtweg versperrte und mit Tränengas eindeckte, um für die  Bilder für die Medien zu sorgen.

Danach gab es aber den Angriff von geschätzten 1.500 Demonstranten am Arc de Triomphe, wo die CRS  unter einem Steinhagel faktisch in die Flucht geschlagen wurde, wie  auf den Videos deutlich zu erkennen ist. Schwarz vermummte Gestalten konnten  in die Ausstellungsräume unter dem Arc de Triomphe eindringen, zerschlugen die Vitrinen mit den Devotionalien der Armee und schändeten damit das Allerheiligste des französischen Militärs. Die ewige Flamme und die davor abgelegten Blumen konnten nur mit Mühe von den ebenso überraschten gilets jaunes gegen die “Casseurs” geschützt werden.

So was kann sich keine Regierung leisten. Die Regierungsmitglieder und die Verteidigungsministerin machten anschließend einen ziemlich ratlosen Eindruck. Rufe nach Verhängung des Ausnahmezustands und Einsatz der Armee werden laut.

Interessant ist die Analyse eines auf Massenbewegungen spezialisierten Soziologen, bisher sei die Zustimmung der Bevölkerung zu Bewegungen nach gewalttätigen Ausschreitungen stets zurückgegangen, so z.B. nach den (durch die Polizei provozierten) Gewalttaten nach der großen Demo der CGT gegen die Arbeitsmarktgesetze in 2017. Diesmal sei das jedoch anders, die Unterstützung der gilets jaunes in Umfragen liegt weiterhin bei 80%. Das sei absolut neu!

Wie wird es weiter gehen?

Nach meinem Eindruck ist die Regierung Macron am Ende. Macron selber hält sich bedeckt und schickt seinen Ministerpräsidenten Philippe zur Verkündung der schlechten Nachrichten vor. Vielleicht wird er ihn als nächsten fallen lassen. Die jetzt angekündigte Aufschiebung der nächsten Erhöhung der Treibstoffsteuer wird als lächerlich empfunden.

Ralph Griesinger, Osnabrück-Land, egri@osnanet.de,  5.12.2018


 

Ergänzung vom 16.12.:

Nach dem Attentat in Straßburg und unter dem Eindruck der massiven Polizeieinsätze und der von Randalierern („Casseurs“) angerichteten Schäden wurde unter den gilets jaunes natürlich diskutiert, wie und ob die Aktionen am Samstag, 15.12., weitergeführt werden. Die Mehrheit entschied sich für eine friedliche Fortsetzung. Die Teilnahme war dann insgesamt geringer als zuvor, insbesondere in Paris. Außerhalb war der Rückgang jedoch geringer als in der Hauptstadt. Hohe Beteiligungen hatten die Demos in Bordeaux und Toulouse (je 4.500 Menschen), Saint-Etienne/Loire (2.000), Nantes und Marseille (1.000). In vielen kleineren Städten fanden sich über 500 Menschen zusammen. Eine genaue Aufstellung hat der Sender FranceInfo.

Für den 5. Samstag in Folge ist das ganz beachtlich. Man muss berücksichtigen, dass viele Kreisverkehre im ganzen Land seit drei Wochen besetzt sind und  teilweise Hütten von den „Gelbwesten“ dort errichtet wurden. Die Versprechen von Macron (s.u.). werden zwar als erstes Gesprächsangebot anerkannt, aber nicht als ausreichend.  Die Liste der Forderungen erweitert sich ständig, jetzt wird auch eine Senkung der Mehrwertsteuer gefordert.

Die gilets distanzieren sich überwiegend von den Gewalttaten der „Casseurs“ („Randalierer“). Wer die sind, ist weiter unklar. Natürlich gibt es die Vermutung, dass Provokateure in staatllichem Auftrag dabei waren, konnte bisher aber nicht nachgewiesen werden.  Daneben  gibt es viele Videos von brutalen Übergriffen Uniformierter gegen Demonstranten und auch Journalisten.

Am Freitag erschien  in Libération ein Aufruf von führenden Vertretern der linken Gewerkschaft CGT zur Unterstützung der Aktionen. Hier einige Stellungnahmen von attac France und aus den Gewerkschaften zu der Rede von Macron, die alle in die gleiche Richtung gehen: wir lassen nicht locker, weil es nur Nebelkerzen gewesen sind. Daraus kann man ganz gut den Stand der Diskussion in Frankreich erkennen.

Aus der Rede von Macron, Mo, 10.12.2018:

Er gibt Fehler zu, erweckt den Eindruck, als müsse man sich gemeinsam aus einer Krise rausarbeiten, appelliert an die Pflichten, die Stärken, die Gemeinsamkeiten Aller für Frankreich und Europa. Unter anderem verspricht er:
– Erhöhung des Nettoeinkommens bei Mindestlohn (SMIC) um 100 €/Monat (von ca. 1.250 auf 1.350 €) durch Reduzierung der Abgaben, also ohne die Unternehmen zu belasten. (Davon wurden aber 20 € schon ab 1.10. umgesetzt, so dass effektiv nur weitere 80 € bleiben.)
– Rücknahme der Erhöhung der Sozialabgabe für Renten unter 2.000 €, was im einzelnen eine Verbesserung um 25-40 €/Monat bedeuten dürfte.
– Steuerfreiheit für Überstunden
(das bedeutet ca. 50 € mehr/Monat für 9 Mio. Arbeitnehmer*innen)
– Ein Aufruf an alle Unternehmer, eine Jahresprämie an die Mitarbeiter auszuschütten, die steuerfrei sein soll.
(An der Abschaffung der Vermögenssteuer will Macron aber festgehalten.)
Gleichzeitig kündigt er eine Debatte zur Umgestaltung auf allen Ebenen an, verspricht mehr Gerechtigkeit und sogar eine 
– Änderung des Wahlrechts.
Ralph Griesinger, Osnabrück-Land, egri@osnanet.de

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