Auch das noch: Nuklearpopulismus

Gastbeitrag von Detlef zum Winkel, 9.1.2017

Schön, dass es berechenbare Publikationen gibt, Meinungsmacher, auf die man sich verlassen kann. Nach dem Karlsruher Urteil zu den Verfassungsbeschwerden 1 BvR 2821/11, 1 BvR 321/12 und 1 BvR 1456/12, Energiekonzerne gegen Bundesregierung, genügte ein Blick auf die Webseite Achse des Guten, um sich davon zu überzeugen. Da kann man lernen, was das Adjektiv erwartungskonform bedeutet. Der Streit um die Energiewende wurde wieder aufgewärmt, besser gesagt angeheizt. Thomas Rietzschel, vom Achsenblog als Dunkeldeutscher empfohlen, bezeichnet den Atomausstieg als „teure Schnapsidee“, von Kanzlerin Merkel „im Alleingang“ und gemeinerweise sogar „autoritär“ durchgesetzt, übrigens „genauso wie die eigenmächtig beschlossene Grenzöffnung vier Jahre später“. Die machtbewusste Frau führe die Deutschen „an der Nase herum“, und die Steuerzahler in Gestalt von „Arbeitern und Angestellten, Handwerksbetrieben und Freiberuflern“ müssten nun „viel, sehr viel Geld“ für die Staatskasse berappen. Geld, das sich die Dunkeldeutschen hart erarbeitet haben. Angesichts eines „politisch abgekarteten Spiels“ erlaubt sich Rietzschel, Zweifel an der Integrität des Bundesverfassungsgerichts zu äußern, weil es den Ausstieg von 2011 in weiten Teilen für verfassungsgemäß erklärt hat. Diese Logik hat er am philosophischen Kolleg von Leipzig erworben, als es noch dem Arbeiter- und Bauernstaat unterstand, in welchem sich die Produktivkräfte frei entwickeln durften.

Achsenkollege Manfred Haferburg, der Atomfuzzi des Blogs, freut sich über die „schallende Ohrfeige“ des Gerichts, die ein „entlarvendes Schlaglicht auf das Rechtsverständnis unserer Regierung“ werfe, nämlich Unternehmen, die „Abermillionen in Sicherheitsverbesserungen investierten“, zu enteignen und „sichere und hochwertige Industrieanlagen“ per „Order di Mutti“ stillzulegen. Haferburg hat früher mal Kernenergetik studiert, wie es anscheinend in der Zone hieß. Dann machte er eine „Blitzkarriere“ am AKW Greifswald, auch so eine hochwertige Industrieanlage, um sich nach der Wende „um die Sicherheitskultur von Atomkraftwerken weltweit“ zu kümmern. Er hat „so viele AKW‘s von innen gesehen, wie kaum ein anderer“, berichtet darüber allerdings nicht.

Die gute Achse treibt das schon seit Jahren so (und ist damit natürlich nicht allein, sondern dient an dieser Stelle nur als Paradebeispiel). Auf Ereignisse zu den Themen Atomausstieg, Energiewende, Umwelt- und Klimaschutz folgen mit Pawlowscher Zwangsläufigkeit wutschnaubende Ergüsse pensionierter Ingenieure oder verhinderter FAZ-Redakteure. Schimpfkanonaden prasseln auf die Ökorepublik, die Kanzlerdiktatur, die linksgrüne Zensur und auf Alles nieder, was nicht in das Weltbild von Kleinaktionären passt. Also vor allem auf Frau Merkel. Zivilisiertes Benehmen, angemessene Wortwahl und kritischer Umgang mit Fakten und Behauptungen sind nicht gefragt. Vermutungen, Meinungen und Verschwörungstheorien mischen sich beliebig, Hauptsache, die Richtung stimmt. Die Fangemeinde der Atomkraft ist die Vorläuferin des Rechtspopulismus von heute. Die Mitbürger aus dem Nuklearzeitalter fühlen sich abgehängt. Weil es immer schwer fällt, sich an die eigene Nase zu fassen, sind nicht die SuperGAUs der Atomenergie daran schuld, dass ihre Blitzkarrieren unterbrochen wurden, sondern Angela Merkel und ihre geheimen grünen Souffleure. Auf der Achse des Guten haben sie eine Plattform gefunden, auf der sie sich unterhalten können.

Muss man ein Urteil wenigstens überfliegen, um sich darüber auszulassen? Sollte man vielleicht so etwas Profanes wie die dazu gehörende Presseerklärung des BVG lesen? Wer sich die Mühe macht, findet darin die lapidare Feststellung der Richter, Nuklearenergie sei eine Hochrisikotechnologie. Weil es sich um eine solche handele, habe die Regierung nach Fukushima das Recht gehabt, sie neu zu bewerten und in ihren Betrieb einzugreifen, selbst wenn bei den deutschen Reaktoren 2011 keine neuen konkreten Sicherheitsgefährdungen erkennbar gewesen seien (was nebenbei gesagt ein Gerücht ist). So prägnant ist die Kernenergetik, pardon: Kernargumentation des Karlsruher Urteils. Alles andere sind Details, über die sich Kommentatoren, die den Schwaben in sich entdecken, ausbreiten mögen, bis sie von der Höhe der in Frage stehenden Entschädigungen enttäuscht werden.

Was Haferburg und Rietzsch beherrschen, ist das Wort Restrisiko und seine Bedeutung: soooo klein. Das neue Substantiv müssen sie erstmal üben. Hochrisiko statt Restrisiko. Ist das angekommen? Die neue Klassifizierung wird sich allmählich herumsprechen, auch in Europa. Schweizer, die sich jüngst am Referendum beteiligten, dürfen sich fragen, warum ihre Bernauer AKWs mit der weltweit höchsten Betriebserfahrung auf einmal Hochrisikoreaktoren sein sollen. Das hat ihnen ihre Alpenzeitung gar nicht verraten. Belgier und Franzosen werden äußerlich protestieren und innerlich zugeben, dass das Wort ganz gut auf den Punkt bringt, was aktuell an ihren rissigen Meilern los ist.

Selbstredend steht es den Achsen-Autoren frei, eine andere Meinung zu vertreten als die Richter des BVG. Als Absolvent realsozialistischer Kaderschulen darf man sich einbilden, mehr von Kernspaltung zu verstehen als irgendwelche Paragrafenfüchse. Aber abgekartetes Spiel? Unterwerfung unter Muttis Order? Wenn irgendetwas eine schallende Ohrfeige verdient hat, dann das.

Jedoch ist alles, was die alten weißen Herren in unflätiger Weise erbrechen, vorher schon in der Welt, der FAZ oder der NZZ auf den Weg gebracht worden, wenngleich in weniger drastischen Ausdrücken. Auch dort wurde der Begriff Hochrisikotechnologie geflissentlich übersehen, der Begründungszusammenhang der Richter unterschlagen. Das kommt davon, wenn man fact sheets der Wirtschaft höher schätzt als die Originalquellen. Wollen die rechtsbürgerlichen Kreise nicht verstehen oder haben sie tatsächlich noch nicht verstanden, um was es geht? Kommt die Einstufung der Atomenergie als Hochrisikotechnologie nach Fukushima, Tschernobyl, Harrisburg, Sellafield, nach Mayak und Hanford zu früh? Müssen weitere siebzig Jahre ins Land gehen, um aus Hiroshima und Nagasaki Konsequenzen zu ziehen? Haben wir es mit einem exzessiven Bern-Syndrom zu tun (die Mehrheit der Schweizerinnen und Schweizer findet es überstürzt und chaotisch, 45 Jahre alte Reaktoren binnen eines Jahres stillzulegen)?

Wer glaubt, hier würden längst entschiedene Partien noch einmal nachgespielt, der irrt. Im Gegensatz zu ihrem publizistischen Marktgeschrei hat sich die Atomindustrie sehr wohl mit den Katastrophen ihrer Vergangenheit auseinandergesetzt und nach technischen Verbesserungen gesucht. Haferburg hat in dem einen Punkt recht, dass Abermillionen für diesen Zweck investiert wurden, allerdings war das lange vor der Laufzeitverlängerung von 2010. Herausgekommen ist eine neue Reaktorlinie, der Europäische Druckwasserreaktor, der von den französischen Unternehmen Areva und EDF angeboten und zur Zeit an vier Baustellen errichtet wird, in Olkiluoto (Finnland), Flamanville (Frankreich, Normandie) und Taishan (China hat gleich zwei Reaktoren bestellt). Nach ihm zerreißt sich auch Großbritannien (Hinkley Point C) vor Sehnsucht. Schlagzeilen macht der EPR vor allem durch seine Kosten, die den Weltrekord von 10 Mrd Euro pro Stück bereits überschritten haben. Die technische Beschreibung dieses Wunderwerks der Ingenieurskunst, wie sie etwa auf Wikipedia zu finden ist, macht durchaus Eindruck. An alles, was beim Betrieb eines Atomkraftwerks schief gehen kann und bereits schief gegangen ist, scheinen die EPR-Entwickler gedacht zu haben.

Es kam freilich, wie es kommen musste – Murphys Satz ist der heimliche Hauptsatz der Kernenergie. Die Optimierung einzelner Sicherheitssysteme maximierte das Chaos im Gesamtsystem. Während die Ingenieure sich intensiv damit beschäftigten, wie man ausschließt, dass die Notkühlung versagt oder eine Kernschmelze in den Boden eindringt, gingen sie davon aus, dass das Herzstück des Reaktors, sein Druckbehälter, keiner kreativen Veränderung bedarf, wenn er nur stabil genug konzipiert ist. Für diesen 500 Tonnen schweren Kessel braucht man nicht mehr und nicht weniger als hochwertigen, erstklassig geschmiedeten Stahl. Das kennen wir, das können wir, und dann funktioniert es auch, wenn wir den Druckbehälter ein paar Nummern größer bauen als bisher, dachten sie.

Doch Probleme lieben es, gerade an den Stellen aufzutreten, wo man sie am wenigsten vermutet hat. Die französische Stahlschmiede Creusot Forge war nicht imstande, die Druckbehälter in der angeforderten Qualität zu produzieren. Eingebaut hat man sie trotzdem, in vier Reaktoren, und die Abnahme auf später verschoben. Als die Mängel in Form von Kohlenstoff-Anomalien des Stahls vor der französischen Atomaufsicht nicht mehr zu verbergen waren, schlossen sich schon die Kuppeln über den Reaktorgebäuden, und die Tatsachen waren betoniert. Um eine Qualitätssicherung nachzuholen, haben die Reaktorbauer Materialproben ins Labor gegeben, wo nun geprüft werden soll, ob die an den Stahl gestellten Anforderungen vielleicht zu hoch waren. So ist es mit der Sicherheit bestellt, an der es niemals Abstriche geben darf.

Die Analyse findet just in diesen Tagen bei Areva Erlangen statt, ehemals ein Betrieb des ehrenwerten Siemenskonzerns. Was wird nun passieren? Mit 99% Wahrscheinlichkeit wird Areva feststellen, die Kohlenstoff-Verunreinigung sei nur gering und werde die Festigkeit des Stahls während 60 Betriebsjahren selbst in Extremfällen nicht beeinträchtigen. Das darf die französische Atomaufsicht abnicken und die Reaktorlinie geht in Betrieb, obwohl ihre zentrale Komponente den Kriterien der eigenen Konstrukteure nicht genügt. Falls es darüber überhaupt eine Auseinandersetzung geben wird, werden die Atomfuzzis jede Kritik als grünlackierte Panikmache beiseite tun. Falls sie vor Gericht ausgetragen werden wird, ist der Fall klar: abgekartetes Spiel.

Mit Sicherheit kannten die Karlsruher Richter die aktuellen Vorgänge nicht. Trotzdem haben sie für dieses undurchdringliche Knäuel von technischer Unvollkommenheit, organisatorischen Sachzwängen, wirtschaftlichen Interessen, politischer Rücksichtnahme und menschlichem Versagen einen passenden Begriff gefunden: Hochrisikotechnologie. Deshalb hat der Staat das Recht, den Zug anzuhalten, auch wenn er scheinbar gleichmäßig rollt – gegebenenfalls auch mit der Notbremse. Europäisch gesehen würde die Rechtsprechung des BVG bedeuten, dass Francois Hollande befugt wäre, dem Europäischen Druckwasserreaktor die Betriebslizenz zu verweigern, selbst wenn das nicht nur Abermillionen, sondern Abermilliarden kosten würde. Würden wir ihm dann beistehen und Verantwortung mit übernehmen wollen, weil der EPR ein französisch-deutsches Projekt war? Den Aufschrei unserer Atomfuzzis kann man sich leicht vorstellen.

Von Populisten kann man eine nüchterne Bestandsaufnahme solcher Verhältnisse nicht erwarten, obwohl sie penetrant darauf bestehen, sich in der Materie auszukennen. Eine Retourkutsche verkneifen wir uns und werden die Achse des Guten nicht als Lügenblog bezeichnen. Was sie zur Nuklearfrage beizusteuern hat, ist freilich Propaganda pur.

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