von Simon Lissner (KV Limburg-Weilburg), 2.11.2011
Kurshalten fällt uns GRÜNEN mal wieder gar nicht leicht. Wildes drehen am Ruder bewährt sich in unruhiger See jedoch bekanntlich nicht. In seinem Papier wirft Reinhard Bütikofer (https://reinhardbuetikofer.eu/2011/10/30/mein-papier-uber-den-berliner-grunen-wahlkampf/) im Zusammenhang mit dem Ausgang von Wahl und Koalitionsverhandlungen in Berlin einige Fragen auf die weitgehende bundespolitische Bedeutung haben. Reinhard bleibt in seinen Antworten leider unverständlich zurückhaltend.
Nach wie vor ist nicht ausgeschlossen, dass die nächste Bundestagswahl bereits vor 2013 stattfinden könnte. Die europäische Finanzkrise könnte neuen Höhepunkten zutreiben, die USA gar ins Wanken geraten (400%ige Staatsverschuldung), die Lage im süd-östlichen Mittelmeerraum ist weder ausgestanden noch durch das Ende von Gaddafi unkomplizierter geworden. In Afghanistan befindet sich die Bundeswehr weiter im Krieg (man darf “das” was sich in Afghanistan abspielt nun seit Guttenberg so nennen) und manche GRÜNE verschließen immer noch die Augen davor, dass das Ende absehbar und durch die US-Verbündeten gesetzt ist. Allem Gerede von unserer “besonderen Verantwortung” gegenüber Afghanistan zum Trotz. Nach der “Pleite” der speziellen Westerwell’schen Außenpolitik in Libyen, droht nun was? Bei Verschärfung der Lage in Syrien etwa ein neuer Waffengang in Syrien? Niemand kann die Augen davor verschließen, dass Assad seine Bevölkerung nicht minder mordet, wie etwa das Gaddafi Regime.
Die Türkei scheint sich vom Gedanken an eine EU-Mitgliedschaft zu verabschieden und streitet zusehends intensiver mit der rechtslastigen Netanjahu Regierung Israels (man sollte sich durch die freundliche Hilfe nach dem Erdbeben nicht täuschen lassen). Das Potential für eine Regierungskrise auch in Deutschland ist beachtlich.
Sollte es zu einem, nach wie vor erwarteten, Regierungswechsel kommen, könnte es sein, dass sich GRÜNE in Regierungsverantwortung recht unvermittelt vor einem Berg von komplexen “Problemfällen” sehen, über die wir uns und besonders diejenigen mit Ambitionen für Kandidaturen auf aussichtsreichen Listenplätzen, frühzeitig Gedanken machen sollten.
Das Entstehen einer weiteren, neuen Partei im bürgerlich-liberalen, Mitte bis linken gesellschaftlichen Spektrum ist gerade auch dem Umstand geschuldet, dass das uns zu neigende Wähler/innenspektrum Zweifel zu hegen beginnt, was es von uns bekommt, falls es uns wählt.
Und immer wieder – die Koalitionsfrage … Ein „Klassiker“ der ins GRÜNE Museum gehört
“Für die SPD ist wie für uns Grüne für 2013 bisher eine attraktivere Alternative zu Rot-Grün nicht in Sicht. Sollten SPD und Grüne tatsächlich ab 2013 zusammen im Bund regieren wollen, dann müssen sie sich allerdings nicht nur jeweils profilieren, auch gegeneinander, sondern bis dahin auch heraus arbeiten, wie mögliche Lösungen für mehr oder weniger absehbare Kontroversen und Konflikte aussehen könnten. Sonst geht es Rot-Grün dann gegebenenfalls ähnlich wie Schwarz-Gelb nach der letzten Bundestagswahl. Dazu ist mir allerdings die Aufforderung der Financial Times Deutschland, SPD und Grüne sollten jetzt das Schmusen ein bisschen zurückstellen und lieber streiten, viel sympathischer als die Einrichtung gemeinsamer Arbeitskreise.” (Bütikofer, Über den Berliner Wahlkampf).
Unbestritten ist, dass die Mahnung von Reinhard ernst genommen werden muss: Wollen wir nicht erneut in eine wie auch immer zu gestaltende Koalition stolpern wie bei ROT-GRÜN die Erste, wäre ehrlicherweise hinzuzufügen, und wollen wir dann nicht das Schicksal der SCHWARZ-GELBEN teilen, sollte eben schnellstens daran gegangen werden, mögliche Lösungen für die in Frage kommenden Konstellationen von Koalitionen emotionsfrei zu erarbeiten. Die Sozialdemokratie muss sich dabei vorneweg der Frage stellen, wie sie sich Verhalten wird, sollte ihr Niedergang sich fortsetzen. War Berlin das SPD Modell für den Bund?
Reinhard resümiert in seinem Schreiben auf die Auseinandersetzung nach Berlin, in der es darum ging, die Partei unverzüglich auf ein “rot-grünes” Bekenntnis für 2013 fest zu legen. Wie er schreibt, wurde dieser Versuch kurzfristig von Vertreter/innen einiger Landesverbände gestoppt. Ein Bekenntnis, das er selbst jedoch ebenfalls abgibt und er bezeichnet es, wie leider bei uns viel zu gewöhnlich, als “alternativlos”.
Ohne das Dilemma in dem wir uns befinden ausreichend zu ventilieren, beschreibt Reinhard richtig den bei uns GRÜNEN verbreiteten Unmut, sich erneut auf ROT-GRÜN in der bereits einmal im Bund versuchten Form einzulassen. Unbeantwortet bleibt die Frage nach “Koch und Kellner”, denn es reicht jedenfalls nicht, einfach nur zu konstatieren, das „wolle man nicht mehr“ und „Neues müsse her“ (Bütikofer). Da waren wir schon mal weiter. Als Ziel gab der Parteitagsbeschluss, auf eine Initiative von Tarek AlWazir (Hessen) hin aus, die GRÜNEN sollten sich im gesellschaftlichen Spektrum Mitte-Links positionieren, ihre Eigenständigkeit betonen und nun, nachdem sie bereits Meinungsmacher in diesem Spektrum sind, darum kämpfen, ihren politischen Führungsanspruch in Wahlergebnissen zu manifestieren. Weder „Ausschließeritis“ noch frühzeitige Festlegungen auf Koalitionsaussagen seien hierzu hilfreich. Aber wie sollte das interpretiert werden? Keinesfalls beliebig. An die Adresse derer, die nun glauben, hier eröffneten sich Perspektiven zu Koalitionen mit CDU/CSU und gar unter Einbeziehung der aktuell schwächelnden FDP, sei gesagt: Eine solche Mißinterpretation macht keinen Sinn! Diese Parteien sind bekanntlich, bei allen Bemühungen der Merkel, ihren Laden zu „Sozialdemokratisieren“, dem bürgerlich, mittig-linken Lager kaum ohne großzügige Verbiegung der Realitätswahrnehmung zuzuordnen. Die Bemühungen der Merkel Regierung dienen einzig dem Ansinnen, Wähler aus dem bürgerlich-liberalen Mitte Links Spektrum und besonders der Sozialdemokratie und uns, abzujagen. Aber: Diese Bemühungen sind bislang nicht sehr erfolgreich und sie haben einen positiven Aspekt, den wir bislang viel zu wenig beachten. Sie tragen zur Erodierung des konservativ-bürgerlichen Lagers bei.
Im Gegenteil ist die Aussage des Parteitages zur Koalitionsfrage der ambitionierte Auftrag, die SPD als „Leadparty“ im bürgerlich-liberalen-mitte-linken Lager abzulösen und das Vakuum das diese Partei hinterlässt, zu füllen.
Es ist der Auftrag, sich um GRÜN-ROT und falls das nicht reicht, + weitere Partei(en) zu bemühen und endlich der seit Jahren konstant dokumentierten Wählermehrheit links von CDU/CSU/FDP, also von dem rechts-bürgerlich-konservativen Lager, zur Regierungsmehrheit zu verhelfen. Und zwar in der geschriebenen Reihenfolge.
Die Entstehung der PIRATENPARTEI entkräftet diese These nicht, im Gegenteil. Sie macht auf zunehmendes Misstrauen der Wähler/innen gerade auch aus dem Lager aufmerksam, in dem wir verortet sind. Am Beispiel Berlin trifft Reinhards Analyse zu, aber weshalb vermeidet er, zum Kern der Sache Stellung zu nehmen? Die PIRATEN in diesem Zusammenhang nicht zu nennen, kann kaum Zufall sein, denke ich. Es ist deren Stimmenanteil, der den unseren krachend zusammen schmelzen ließ. Das ist so offensichtlich, dass man es genauer betrachten sollte um auch die Feinheiten wahr zu nehmen und es ist so deutlich, dass man kaum annehmen darf, dass diese Partei bis zur Bundestagswahl von selbst verschwunden sein wird. Mir scheint eher, diese Partei ist für uns das, was für die SPD die WASG/Linke ist/war. Ich möchte nicht gar so genau wissen, wie viele, gerade junge GRÜNE oder GRÜNEN nahe Menschen die PIRATEN wählten. Die Frage, weshalb sie das taten, unbeantwortet lassen, wäre ein sträfliches Versäumnis. Diese Entwicklung allein auf die „pfiffigeren“ Wahlplakate zurückführen zu wollen, hält das Wahlvolk für unangemessen blöd. Reinhards Kritik an Berlin ist nicht frei von Seitenhieben. Entkleidet man seine Kritk jedoch von Polemik (im ja durchaus unterhaltsamen Sinne!), bleibt sie erstaunlich zahnlos. Der Appell an die Partei beschränkt sich darauf, sich als Juniorpartner der SPD anzudienen, dies aber bitteschön etwas „geschickter“ als bisher. Nun ja. Ich finde das nicht wirklich prickelnd.
Sind wir nicht – zum Teil – selber schuld?
Diese Frage (Reinhard) verdient tiefere Beachtung. Und sie ist kaum losgelöst von der GRÜNEN Beantwortung zentraler gesellschaftspolitischer Fragen zu sehen. Dabei sollte zur Sprache kommen, dass die Bemühungen ausgerechnet derer, die dem eher „linken“ Flügel der Partei zugeordnet werden, die Partei zu dem zurechtzustutzen, was andere für „Regierungsfähig“ halten, weit voran gekommen sind. Zum großen Erstaunen der interessierten Öffentlichkeit preschen da gerade diejenigen Parteifreund/innen vor, die dem eher „linken“ Parteiflügel zugerechnet werden. Das angestrebte Mittelmaß und die Kompatibilitätsträume zur Merkel CDU kumulierten letztmalig in dem Atomlaufzeitverlängerungsbeschluss des Bundesparteitages der GRÜNEN. Eben dies stößt im Wahlvolk auf zunehmendes Misstrauen und kumuliert in Wahlchancen, zum Beispiel für PIRATEN. „Klar zum Ändern“?
Da wäre die ständige Diskussion der Koalitionsfrage. Einige bei uns wollen einfach keine Ruhe geben und verunsichern unsere Wähler/innen konsequent mit dem Gequatsche über Schwarz-Grüne Blütenträume und sei es auch nur als irgendwie geartete Denkmodelle für Bundes- und Landespolitik. Diejenigen, die mehrheitlich GRÜN wählen, wollen Schwarz nicht. Nachdem die SPD in Koalitionsfragen ein Verhalten an den Tag legt, das als Hurerei bezeichnet, den ehrenwerten ältesten Berufsstand verunglimpfen würde, und für das sie entsprechend konsequent bei Wahlen abgestraft wird, hält sie sich auch für 2013 die große Koalition als Option offen. Beratungsresistenz in ausgeprägter Form. Eine weiterhin schwächelnde SPD im 30% Bereich macht die Option Schwarz-Rot wahrscheinlich. Wird sie stärker, können die Wähler/innen auch nicht sicher sein, dass sie nicht erneut mit einer Schwarz-Roten Regierung „belohnt“ werden. Bei uns ist das Wahlvolk sich da auch nicht mehr sicher. Da die SPD, zuletzt in Berlin dokumentiert, kaum über eine Koalition des gesamten bürgerlich-Mitte-Links-Lagers auch nur nachdenkt, und im Bund ebenfalls mit knappen Ergebnissen zu rechnen sein wird, ist jede Stimme für die SPD eine, die einer weiteren großen Koalition den Weg bereitet. Die einzige Hoffnung die dieser abgehalfterte Verein hat, ist, es reicht ihr auch nur knapp, vor der CDU zu liegen und in einer solchen den Kanzler (eine „in“ haben die eh nicht), zu stellen. Nach „anstrengenden“ Koalitionen steht denen der Sinn nicht. Das ist durchaus ein Punkt, der in Baden-Württemberg noch zum vorzeitigen Ende von GRÜN-ROT führen kann.
Halten die Schwarz-GRÜNEN bei uns mal still, setzen sich die Befürworter/innen von ROT-GRÜN pur in Szene. Beiden gemeinsam ist jedoch, dass sie sich GRÜNE generell nur als Juniorpartner (Kellner) in irgendeiner Koalition vorstellen können. Und bestätigt durch die sich selbst erfüllende Prophezeiung (sinkender Umfragewerte) hat man es dann im Nachhinein ja schon immer gewusst. Die eigene Verantwortung für dieses Ergebnis wird dabei geflissentlich übersehen.
Mit politischem Mittelmaß gewinnen wir keine Wahlen
Helmut Schmidt gewann Wahlen nach der Sturmflut, Schröder nach Irak Kriegs „Nein“ und Oderbruch Flut. Helmut Kohl machte Beute nach dem Zusammenbruch des Sowjetregimes und mit der Wiedervereinigung und bereits Adenauer war schamloser Kriegsgewinnler („Heimkehr der Kriegsgefangenen“). Die GRÜNEN fuhren nach Fukushima und Stuttgart 21 reiche Ernten ein. In der aktuellen Krise der Finanzmärkte und der Occupy – Bewegung sind wir nur ein geringer Faktor, in der Antikriegsfrage torkeln wir aus Sicht der Menschen im Land weiter vor uns hin. Für sie, die den Afghanistan Krieg mit Höchstwerten ablehnen, gelten wir stabil als „Kriegsteilnehmer“ auch wenn sich das Abstimmungsverhalten unserer Abgeordneten schrittweise positiv verändert hat. Unsere Glaubwürdigkeit hat Schaden genommen. Die Enttäuschung über unser Abstimmungsverhalten bei der Merkelschen Atomlüge ist größer als es die Umfragewerte vermuten lassen. Wir haben in der Atomfrage zwar reichlich gewonnen, aber diesen Gewinn im Bemühen ums politische Mittelmaß gleich wieder verspielt. Schließlich kann die verfälschende Frage „Sind Sie für oder gegen den Atomausstieg“ kein Mensch anders als mit „Ja, Dafür!“ beantworten, wenn er/sie seine/ihre Sinne beieinander hat, aber sich sich dessen ungeachtet an einer solchen grenzdebilen Befragung beteiligt.
Mit anderen Worten: Wenn man Gelegenheiten nicht nutzt, das Feld nicht bestellt und die Ernte nicht einfährt, dies anderen über- oder sie verdorren lässt, braucht man sich über gar nichts wundern.
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