Liebe Partei- und Fraktionsspitze,
auf einen Brief der „Grünen Friedensinitiative“ vom 16.10.2010[1] habt ihr am 17.12.2010 eurerseits mit einem Brief[2] geantwortet, zu dem wir gerne einige Bemerkungen machen würden.
Es geht um den Afghanistan-Krieg unter deutscher Beteiligung, die alljährliche Verlängerung des Mandates der Bundeswehr und unsere Haltung als BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zu diesem Einsatz.
Seit Beginn des Krieges in 2001 sind bisher insgesamt 2.271 Nato-Soldaten ums Leben gekommen, darunter 46 Soldaten der Bundeswehr und drei deutsche Polizisten. In den von der Webseite WikiLeaks im Juli 2010 veröffentlichten Berichten des „Afghan War Diary“ aus den Jahren 2004 bis 2009 wurden insgesamt 24.155 Tote im Zusammenhang mit dem Krieg numerisch erfasst.[3]
Auf unserer Sonder-Bundesdelegiertenkonferenz in Göttingen haben wir per Beschluss eindeutig auf dieses sich bereits abzeichnende Desaster hingewiesen und festgestellt: „Falls es nicht zu einem von uns geforderten erkennbaren Kurswechsel kommt, bedeutet das in der Konsequenz, dass sich die Bundeswehr komplett aus Afghanistan zurückziehen muss. Das Zeitfenster für einen solchen Strategiewechsel ist dabei nicht unbegrenzt… Aber bislang ist seitens der Bundesregierung eine neue deeskalierende Strategie nicht erkennbar. Ebenfalls nicht erkennbar ist ein Ende des Einsatzes in einem verantwortbaren Zeitraum. Maßgebend für jegliche weitere Zustimmung zu einer Verlängerung des Bundeswehreinsatzes ist für uns jedoch die – längst überfällige – Vorlage eines zeitlich klar gegliederten Stufenplans für den Aufbau und die Befriedung. Dieser Zeitplan muss einen völligen Abzug der ausländischen Truppen, somit natürlich auch der Bundeswehr in wenigen Jahren beinhalten.“
Tatsächlich stellt Ihr in Eurem Brief fest, dass die Eskalationsstrategie fortgesetzt wurde und wird und die Situation sich weiter verschlechtert hat und wiederholt dann die auf der Bundesdelegiertenkonferenz in Rostock im Oktober 2009 beschlossene Position: „Doch wäre es falsch, aus dieser Kritik heraus für einen Sofortabzug einzutreten. Ein verantwortlicher Abzug braucht Zeit und eine gründliche Vorbereitung. Das geht nicht in wenigen Monaten. Ein Sofortabzug würde die noch schwache afghanische Zivilgesellschaft einem Bürgerkrieg zwischen Taliban und Warlords überlassen. Er hätte eine Eskalation von Gewalt und Krieg zur Folge und würde viele Früchte des jahrelangen Aufbaus zunichte machen. Wie zu Zeiten des afghanischen Bürgerkrieges müsste die Masse der Helfer abziehen und Hunderttausende von Rückkehrern nach Afghanistan würden wieder ins Exil in die Nachbarstaaten getrieben. Er wäre ein Brandbeschleuniger sondergleichen – und zudem ein Destabilisierungsprogramm für die instabile Atommacht Pakistan. Eine solche Position halten BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN für falsch.“
In der Tat ist im Spektrum der beiden Beschlüsse, wie in Eurem Brief ja auch erwähnt, das ganze „Dilemma“ dargestellt. Der Strategiewechsel, der einen verantwortbaren Abzug möglich machen würde, ist von NATO, USA und Bundesregierung nicht eingeleitet worden. Der Krieg wird vorerst bis 2014 fortgeführt: „Auf ihrem Gipfel am 19./20. November 2010 in Lissabon beschloss die NATO, ab nächstem Jahr mit der Übergabe der Sicherheitsverantwortung zu beginnen und bis Ende 2014 den Kampfeinsatz zu beenden.“ Nun ginge es „um das ‚Wie’ und das ‚Wann’ des Abzugs“, was Ihr mit Bedingungen für eine „politische Lösung“ verknüpft: „Andererseits ist ein Verhandlungskompromiss ohne rote Linien ebenso wenig tragbar für uns.“ Einerseits stellt Ihr also fest: „Die Strategie der gezielten Tötungen ist kein Beitrag für eine politische Lösung in Afghanistan. Sie sind vielmehr einer der Gründe, warum sich die Situation trotz aller Anstrengungen weiter verschlechtert.“ Andererseits sollen also die in den Verhandlungen zu findenden Kompromisslinien nicht die „roten Linien“ der Einhaltung von Menschenrechtsstandards überschreiten.
Was aber sollen für BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eigentlich die Mittel sein, mit denen diese Standards gegenüber den Kriegsgegnern durchgesetzt werden sollen? Da die Logik des Krieges die Logik des Krieges bleibt, in der es immer um das gewaltsame Aufzwingen des eigenen Willens geht, bleibt da nur die fortgesetzte Gewaltanwendung. Aber diese Gewaltanwendung erfolgt eben nicht nach den Wünschen von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, sondern ganz real nach der faktischen militärischen Strategie der NATO. Dass diese aber falsch ist und auch geostrategische Gründe („Atommacht Pakistan“) hat, stellt Ihr selber sehr zu Recht fest.
Aus einer verantwortungsethischen Perspektive für unsere Partei ergibt sich daher die Frage, ob die Zweck-Mittel-Relation hier überhaupt noch gegeben ist, oder dieser Einsatz, gemessen an den von uns selbst formulierten Zielen, nicht vielmehr als vollständig gescheitert betrachtet werden muss. Verantwortungsethik meint vor allem, die Folgen unseres Unterlassens und Tuns vollständig tragen zu müssen. Gegenüber den Soldatinnen und Soldaten, ihren Familien, den zivilen Helfern, den Menschen in der Region, die so viele Hoffnungen auf uns gesetzt haben. Verantwortungsethik meint aber auch, sich nicht in eine Verantwortung zu begeben, die wir nicht erfüllen können. Ein solcher Weg, wäre die fortgesetzte Verantwortungslosigkeit – gegenüber den Soldatinnen und Soldaten, ihren Familien, den zivilen Helfern, den Menschen in der Region, die so viele Hoffnungen auf uns gesetzt haben.
Aus diesen Gründen halten wir Eure Haltung, das leider abzusehende gewaltsame Sterben von Menschen, für die wir eine explizit politische Verantwortung im Rahmen unseres Gemeinwesens tragen, noch bis mindestens 2014 verantworten zu können, für falsch. Die Bundeswehr befindet sich in Afghanistan vielmehr im Krieg und die Soldatinnen und Soldaten sind Kombattanten in einem Bürgerkrieg geworden, den sie nicht gewinnen können. Aus eben dieser nüchternen Feststellung hat beispielsweise Kanada seine Konsequenzen gezogen. Die Stabilisierung Pakistans ist zudem eine Angelegenheit der „internationalen Gemeinschaft“ der Atommächte und nicht der Bundeswehr, weil sie auch dies nicht kann. Selbiges gilt, so schmerzlich dies auch einigen erscheinen mag, für die Durchsetzung von Menschenrechten mit militärischen Mitteln, zumal, wie jüngste Umfragen zeigen, die Unterstützung in der afghanischen Bevölkerungen für den Einsatz der Bundeswehr rapide gesunken ist.[4] Menschenrechte werden nicht gewährt, sie müssen immer von denen erstritten werden, die selbst Subjekt und Träger dieser Menschenrechte sein wollen.
Es ist schon lange an der Zeit für eine Bilanz dieses Einsatzes und unserer Rolle darin. Unmöglich aber eine solche überhaupt zu beginnen, wenn wir den falschen Weg weiter fortsetzen. Die Teilnahme der Bundeswehr an diesem Krieg ist deshalb schnellstmöglich zu beenden. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN muss die eigene Perspektive auf die Konfliktsituation in der Region wechseln, die Bundesrepublik Deutschland ihre Rolle in der NATO und der UNO neu definieren. Da Friedenspolitik, will sie wirksam sein, immer auch eine tatsächliche machtpolitische Basis haben muss, sollten wir die Teilnahme an militärischen Abenteuern beenden und stattdessen unseren ökonomischen Einfluss zur Erreichung einer friedlicheren Welt verstärkt geltend machen.
Robert Zion, KV Gelsenkirchen; Peter Alberts, KV Münster; Karl-Wilhelm Koch, KV Vulkaneifel; Richard Janus, RV Wartburgkreis/Stadt Eisenach; Ralf Henze, KV Odenwald Kraichgau;
[1] https://www.gruene-friedensinitiative.de/texte/101016_brief_an_parteifuehrung.html
[2] https://www.gruene-friedensinitiative.de/texte/101217_Antwort_FraVo_BuVo_GFI_Afgh.pdf
[3] https://blog.0x0lab.org/2010/08/afgan-war-diary-in-numbers/
[4] https://www.tagesschau.de/ausland/afghanistandownload100.pdf
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