Quelle: Cultura21.de
Italien ist eins der acht mächtigsten Länder der Welt (G8) und Gründungsmitglied der Europäischen Union. Ihr größtes Unternehmen kontrolliert 14,6 Prozent des Bruttoinlandsproduktes – und heißt Mafia.
Von Davide Brocchi, Köln
In den 1970er und 1980er Jahren verging kaum ein Tag, an dem die italienische Presse nicht über die Mafia berichten musste. Mal ging es um die blutigen Kämpfe zwischen den Clans, mal um den Drogen- und Rüstungshandel, mal um die Zusammenarbeit mit „umgelenkten Teilen“ der Geheimdienste und das enge Verhältnis zu korrupten Politikern. Die Liste der Berichte über die Morde an unbequemen Richtern, Journalisten oder Politikern ist lang.
Giuseppe Impastato war ein junger Idealist, der in Cinisi bei Palermo lebte. Er widersetze sich seiner eigenen Familie, weil sie von Mafiosi verseucht war: Der Vater war einer von ihnen. Über einen selbstfinanzierten freien Radiosender berichte Impastato über die Machenschaften der Mafiosi in der Region. Während des Wahlkampfes zu den sizilianischen Kommunalwahlen 1978 setze die Mafia dem jungen Widerstand ein Ende. Beim Warten an einem Bahnübergang wurde Impastato aus seinem Wagen gezerrt, mit einem Stein erschlagen und an die Schienen gefesselt. Anschließend deponierte man einen Sprengsatz neben ihm und zündete diesen fern. Wenig später wurde ein Brief veröffentlicht, der die Tatsache bekräftigen sollte, dass es sich bei der Explosion um einen Selbstmord gehandelt hatte. Impastato wurde 30 Jahre alt.
Ein Jahr später wurden der leitende Polizeibeamte Boris Giuliano und der Ermittlungsrichter Cesare Terranova in Palermo erschossen.
Der ehemalige Präsident der Region Sizilien, Piersanti Mattarella, wurde am 6. Januar 1980 ermordet: Er hatte die Verstrickung zwischen Mafia und Politik (involviert waren auch eigene Parteikollegen) öffentlich verurteilt.
Der General der Carabinieri, Carlo Alberto dalla Chiesa, und seine Frau wurden am 3. September 1982 von der Mafia ermordet. 1983 wurde der Staatsanwalt Rocco Chinnici umgebracht. Er war der Begründer des Antimafia-Pools von Palermo.
Der sizilianische Unternehmer Libero Grassi wurde 1991 getötet, weil er sich öffentlich gegen die Schutzgelderpressungen der Mafia gewehrt hatte. Ein Jahr später wurden die zwei populären Anti-Mafia-Richter samt Eskorte in die Luft gejagt: erst Giovanni Falcone; zwei Monate später sein Freund und Kollege Paolo Borsellino. Ein Jahr nach diesem Anschlag nahm die Polizei einen der Attentäter, Santino di Matteo, fest. Di Matteo begann mit der Justiz zu kooperieren und wurde in staatliches Schutzprogramm für Mafiaaussteiger (Pentiti) aufgenommen. Die Rache der Mafia ließ nicht lange auf sich nicht warten. Sie entführte den zwölfjährigen Giuseppe di Matteo, Sohn von Santino. Nach zwei Jahren Gefangenschaft wurde das Kind erdrosselt. Um die Spuren der Gewalttat zu verwischen, wurde sein Körper in einem Fass Säure aufgelöst.
Vor allem das letzte Beispiel gibt einen Einblick ins Selbstverständnis der Mafia. Sie ist „ein totalitäres System – bestimmt von der Verachtung für das menschliche Leben […] Mafiakultur bedeutet, dass der Einzelne nicht existiert und dass alle Interessen der Mafia untergeordnet sind. Dass es keine Werte gibt, an die man glaubt. Dass ‚Ehre’ und ‚Familie’ nur hohle Floskeln sind, weil stets nur eines zählt: das Weiterbestehen der Mafia. Und dass die Mafia, um dieses Ziel zu erreichen, jeden Einzelnen mit einem ‚Über-Ich’ ausstattet, mit dem Bewusstsein, zu einem auserlesenen Volk zu gehören,“ schreibt die Mafia-Expertin Petra Reski in ihrem neuen Buch „Von Kamen nach Corleone“.
Nur der Cosa Nostra sollen mehr als 5.000 Menschen zum Opfer gefallen sein [1]. Die Tatsache, dass auch viele Polizisten und Richter zu ihnen gehören, zeigt, dass die italienische Justiz in all den Jahren nicht untätig geblieben ist. In dem legendären Maxiprozess war es Giovanni Falcone und Paolo Borselino gelungen, 360 Mafiabosse zu insgesamt 2665 Jahren Haft zu verurteilen [Reski 2010:103]. Als die berüchtigten Paten Totò Riina und Bernardo Provenzano festgenommen wurden, zeigte das italienische Fernsehen zwei alte mitgenommene Männer in Handschellen, die eher einfältigen Schafhirten als mächtigen, brutalen Herrschern ähnelten. Ein trügerisches Bild. Zur Cosa Nostra (so heißt die Mafia in der Region Sizilien), Ndrangeda (Kalabrien), Camorra (Kampanien) und Sacra Corona Unita (Apulien) gehören insgesamt 629 Clans, die auf einer Armee von 20.200 Mitgliedern und fast 220.000 Unterstützern („fiancheggiatori“) zählen [2]. Nur beim Clan Sarno in Neapel stehen 5.000 Personen unter dem Befehl eines Mafia-Bosses [3]. Der Kampf der Justiz gegen die Mafia gleicht dem Kampf gegen einen Tumor: „Mafiosi wachsen nach wie Tumorzellen,“ sagt Nicola Gratteri, leitende Oberstaatsanwalt im kalabrischen Reggio Calabria [Reski 2010:55].
Während früher die sizilianische Cosa Nostra als mächtigste Mafia-Organisation galt, hat in den letzten zwei Jahrzehnten die kalabrische ’Ndrangheta eine steile Karriere hingelegt. „Nach den Morden an den beiden Staatsanwälten Giovanni Falcone und Paolo Borsellino waren die Scheinwerfer des öffentlichen Interesses fast ausschließlich auf Sizilien gerichtet,“ und im Schatten der Cosa Nostra konnte die `Ndrangheta fast unbemerkt wachsen. „Aus den bäuerlichen Clans, die einander Schafe raubten, war die reichste Mafiaorganisation Italiens geworden, mit einem geschätzten jährlichen Geschäftsumsatz von 45 Milliarden Euro“ [Reski 2010:87].
Die Mafia ist die größte italienische Holding, mit einem jährlichen Gesamtumsatz von 135 Milliarden Euro und einem Nettogewinn von 70 Milliarden Euro [4]. Im Oktober 2009 berichtete die englische The Guardian [5], dass die Mafia 14,6 Prozent des Bruttoinlandsproduktes Italiens kontrolliert, das heißt eines Landes, das zu der Gruppe der acht mächtigsten Nationen der Welt gehört (G8).
Die Aktivitäten der Mafia liegen nicht nur in Waffen- und Kokainhandel, Betrug und Fälschung, Mord und Erpressung. Die Mafia braucht auch das legale Geschäft (z.B. Restaurants und Pizzerien), unter anderem um ihr Geld zu waschen. „In Italien gaben die Antimafiafahnder im Sommer 2010 bekannt, dass heute mindestens 5.000 Restaurants Geldwaschanlagen der Mafia sind, in Großstädten wie Rom und Mailand soll sogar jedes fünfte Restaurant der Mafia gehören“ [Reski 2010:111].
Die Mafia mischt auch im Baugeschäft und Finanzhandel kräftig mit.
In Italien pflegt die Mafia seit mehr als einem halben Jahrhundert enge Kontakte zur Politik. Der sizilianische Staatsanwalt und oberste Mafia-Jäger Piero Grasso beschreibt dieses Verhältnis so: “Mafia und Politik verhalten sich zueinander wie der Fisch und das Wasser: Es gibt kein Wasser ohne Fische und keine Fische ohne Wasser. Manchmal habe ich den Eindruck, dass die Politik eher Lust auf die Mafia hat und sich davon nicht wirklich befreien will.” [6]
Die Mafia kontrolliert viele Wählerstimmen und war in Italien immer wieder Teil der Regierung. Mehrere Mafiaaussteiger wie Tommaso Buscetta berichteten vor den Richtern über die Treffen zwischen Giulio Andreotti und den Mafiabossen. Andreotti war 21mal Minister, 7mal Regierungschef, ewiger Strippenzieher der Democrazia Cristiana (DC) und zählt Henry Kissinger und Helmut Kohl zu seinen engen Freunden [7].
Seit 2010 ist endgültig bewiesen, dass auch Silvio Berlusconi seit Jahrzehnten enge Kontakte zur Mafia pflegt [8]. Der Mediator ist seine rechte Hand Marcello Dell’Utri.
Dell’Utri war leitender Manager von Berlusconi’s Holding Fininvest, Mitbegründet von Berlusconi’s Partei Forza Italia im Jahr 1993, von 1999 bis 2004 Europäischer Abgeordneter in den Reihen des Europäischen Volkspartei (PPE), heute Mitglied des italienischen Senats. Dell’Utri wurde 2004 zu einer Gefängnisstrafe von neuen Jahren verurteilt, wegen externer Beteiligung an einer mafiösen Vereinigung. Im Juni 2010 hat das Berufungsgericht von Palermo die Verurteilung bestätigt, die Gefängnisstrafe jedoch auf sieben Jahre herabgesetzt.
© Davide Brocchi, 15.12.2010
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Literatur
- Petra Reski, Von Kamen nach Corleone, Hamburg: Hoffmann und Campe, 2010
Referenzen
[1] Mehrere Internetquellen geben diese Opferzahl an, zum Beispiel Wikipedia.
[2] Limes, “Esiste l’Italia?Dipende da noi”, Mailand: Gruppo editoriale l’Espresso, 02/2009.
[3] Leandro Del Gaudio, L’allarme del pm: in 5mila agli ordini del boss, Il Mattino, 20.07.2009.
[4] Associazione di Confesercenti, Rapporto Sos IMpresa 2008.
[5] Tom Kington, Mafia’s influence hovers over 13m Italians, says report, London: The Guardian, 01.10.2009.
[6] Rede von Pietro Grasso am 2.8.2009 bei der Veranstaltung InConTra in Cortina d’Ampezzo.
[7] Hans-Jürgen Schlamp, Aus dem Sack geschlüpft, in: Der Spiegel, 39/1999.
[8] La Repubblica, Mafia, la Corte su Dell’Utri “Mediatore tra Boss e Berlusconi”, in: La Repubblica.it, 19.11.2010.
Homepage von Davide Brocchi: https://www.davidebrocchi.eu/
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