Wie sieht es in Brasilien aus? Was passiert im Moment?
von Ralf Henze, 20.7.13
Nunmehr seit Wochen gibt es viel beachtete Demonstrationen in Brasilien, die wegen Preiserhöhungen im öffentlichen Nahverkehr begannen. Geht es denn wirklich nur um 20 Centavos (7 Eurocent) wie weltweit in den Medien erzählt wird? Nicht ganz. Für die Armen sind diese 20 Centavos zwar eine Menge, denn mit jedem Umsteigen muss eine neue Fahrkarte gekauft werden, so dass diese Erhöhung eine Auswirkung auf das Portemonnaie hat. Der Minimallohn in Brasilien liegt bei etwa 800 Reais (270 €), eine Fahrkarte kostet etwa 3 Reais (1 €).Doch diese Preiserhöhungen waren lediglich der Tropfen, der ein Fass zum Überlaufen brachte.
Demo in Campinas am 20.06.2013 mit ca. 80.000 TeilnehmerInnen
In den vergangenen Monaten gab es bereits einige Demonstrationen wegen der Preiserhöhungen. So etwa in Porto Alegre und anderen Städten, doch wurden sie kaum beachtet. Als nun im Juni die Preise in São Paulo angehoben wurden, gab es Proteste von ein paar tausend Menschen, vor allem Studenten/innen. Die Polizei ging ohne Vorwarnung gewaltsam gegen die Protestierenden vor, machte Jagd auf sie, knüppelte und setzte massiv Pfefferspray, auch gegen Unbeteiligte, ein. Diese Gewalt führte dazu, dass in den darauffolgenden Tagen viele Bürger/innen sich den Protesten anschlossen.
Die Menschen waren betont friedlich, viele Demonstranten/innen setzten sich mit Blumen in den Händen vor die in voller Montur stehenden Polizisten. Praktisch alle schlossen sich den Sprechchören „sem violência!“ (ohne Gewalt!) an. Dennoch ging die Polizei wieder mit Gewalt vor, setzte Gummigeschosse, Pfefferspray, Tränengas und Knüppel ein, auch gegen Journalist/innen und Kameraleute, selbst wenn diese riefen, dass sie von den Medien seien. Ebenso wurden unbeteiligte Menschen aus Kneipen geholt und auf der Straße verprügelt. Dies sorgte für noch größere Demonstrationen, die sich auf das ganze Land ausweiteten, in Rio de Janeiro, Brasília und weiteren Städten begannen die Menschen auf die Straße zu gehen. Die Medien, die bis dato die Linie der Regierung vertreten hatten, begannen nun objektiver zu berichten. Nur „Globo“, der größte Sender des Landes, der bekannt ist für Manipulationen seiner Berichte blieb bei seiner regierungsfreundlichen Berichterstattung bzw. spielte die Zahl der Demonstranten/innen gewaltig herunter, zeigte im Fernsehen nur die Gewaltätigen. Reporter von Globo wurden von den DemonstrantInnen verjagt, einige, die sich nicht zu erkennen gaben, wurden entlarvt.
Schließlich reagierten die Bürgermeister und Gouverneure (entspricht dem Ministerpräsidenten) Sie befahlen der Polizei in São Paulo, sich zurückzuhalten, keine Gummigeschosse mehr einzusetzen und nahmen die Preiserhöhungen für den Öffentlichen Nahverkehr zurück.
Aber sie hatten wirklich nicht verstanden, denn es ging von Anfang an um viel mehr: Während für Prestigeobjekte, unter anderem die Fußball-WM 2014 und die Olympiade 2016 genügend Geld vorhanden ist, hapert es in fast ganz Brasilien an einer vernünftigen öffentlichen Gesundheitsversorgung sowie an Bildungsmöglichkeiten. Die Folge: noch mehr Menschen gingen auf die Straße.
Am Montag, dem 17. Juni 2013 waren nach offiziellen Angaben in Rio 100.000, in São Paulo ca. 70 tausend auf der Straße. In Brasília gelang es einigen während der friedlichen Demo auf das Dach des Kongresses zu steigen. Am Donnerstag, dem 20. Juni kam es schließlich zu Demos in fast ganz Brasilien. Von der Demo in Rio wurden Bilder der Gewalt verbreitet. Wie überall gibt es auch gewalttätige Gruppierungen, denen es nur um Zerstörung geht, dazu gesellten sich Kriminelle, die auf Plünderungen aus waren. In São Paulo hat man ganz schnell gelernt, wie man diese Gewalttäter isoliert, deshalb kam es in den letzten Tagen zu keinerlei Ausschreitungen.
weitere Fotostrecke vom 17.06.2013 in Brasilia in der Zeitung Estadão hier…
Den Brasilianern fehlt jegliche Erfahrung an Demonstrationen, die letzten großen Demos waren in den 80ern, aber sie lernen schnell. Ohne Demoleitung, sie werden über das Internet (Facebook und Twitter) von einigen Netzwerken wie unter anderem Anonymus oder Passe Livre (Initiative für kostenlosen ÖPNV) organisiert, Verhaltensregeln bei Polizeiübergriffen, Kontakte zu anwaltlichen Hilfen etc. werden über die sozialen Netze verbreitet und schließlich auch die Aufforderung an Parteien, sich fernzuhalten, denn schließlich seien es Demos des brasilianischen Volkes. Es soll verhindert werden, dass Parteien sich die Demos auf die eigenen Fahnen schreiben: Trittbrettfahrer, auch Faschisten und militante Rechtsextreme versuchen die Bewegung zu beeinflussen und zu vereinnahmen. Ein Beispiel: es gab einen Aufruf zu einem Generalstreik am 01.07., bei dem innerhalb von 12 Stunden über fünfhunderttausend Menschen ihre Teilnahme zusagten. Kurz darauf wurde die Person, die dahinter steckte, enttarnt. Hier hatte jemand zumindest jemand versucht, die Bewegung zu beeinflussen.
Ein bewegendes Video:
Leute… hört zu … unsere Aktion war siegreich … aber die Bewegung hat erst begonnen!
Wir sind Teil … eines nationalen Kampfes … eines weltweiten Kampfes!
Wir können hier jetzt nicht stehenbleiben.
Deshalb … ist es wichtig … dass die ganze Welt hier ist … Sei um 6 Uhr … am Donnerstag … an der Metrotreppe … am Busbahnhof.
Lasst uns der Bewegung folgen … denn unser Kampf ist viel größer als dies hier!!
Wir werden erst aufhören … wenn wir versammeln … 1 Million … 2 Millionen … 3 Millionen … 20 Millionen … 40 Millionen … hier … um mit denen zu reden … dass nichts richtig ist … was sie tun … mit unserem Geld, mit unserer Geundheit, mit unserer Bildung!!
“Morgen wird es größer sein!
Am Abend des 21.06. hatte Präsidentin Dilma Rousseff (wikipedia ) ihre erste Ansprache an die Nation seit Beginn der Proteste gehalten. Sie wirkte wie einstudiert, ohne Charisma.
Darin sprach die brasilianische Präsidentin von einem großen Pakt zur Verbesserung in den Bereichen Transport, Gesundheit und Erziehung. Mit den Gouverneuren und den Bürgermeistern werde sie sich zusammensetzen, damit es für den ÖPNV einen Nationalen Plan geben werde. 100% der Einnahmen aus der Erdölförderung würden für die Bildung eingesetzt werden und tausende Ärzte aus dem Ausland (Kuba, Portugal, Spanien) für den öffentlichen Gesundheitssektor geworben.
Die Demonstrationen seien eine große Lektion und sie werde mit den „Anführern der Demos (Anm.RH: Wer soll das sein?) und den Gewerkschaften“ reden. Brasilien werde eine hervorragende WM 2014 austragen. Die Kosten für die Stadien würden wieder eingenommen werden (Anm. RH: mindestens drei Stadien stehen in Städten ohne Erstligaklubs, werden also nach der WM mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit mit den Stadien wirtschaftlich völlig überfordert).
Die Reaktionen in den Netzwerken waren meist: „Das ist doch alles bla bla bla“. Man traut ihr nicht, hält ihre Zusagen für leere Versprechungen, wie zum Beispiel die Einnahmen aus der Erdölförderung noch nicht existieren. Den Menschen geht es um viel mehr, nämlich einen Umbau des Landes, eine Umverteilung, eine massive Bekämpfung der Korruption – und: kein Gesetz im August, das DemonstrantInnen zu TerroristInnen macht (FIFA-Forderung) und kein Gesetz, dass Homosexuelle geheilt werden müssen (Forderung des evangelikalen Menschenrechtsbeauftragten der brasilianischen Bundesregierung um die wichtigsten Forderungen zu nennen. Das Gesetz zur Heilung Homosexueller wurde inzwischen gestoppt (Anmerkung von RH: Seit einem Urteil des Nationalen Justizrates am 14.05.2013 ist die Ehe zwischen Gleichgeschlechtlichen erlaubt, obwohl es bisher noch kein Bundesgesetz dazu gibt. Bereits vorher gab es bereits Urteile anderer Gerichte in dieser Richtung (mehr in der Süddeutschen Zeitung).
Nun, Wochen später, beginnen einzelne Interessensgruppen Demonstrationen zu organisieren. So die Gefängniswärter in Brasília, die sich gegen Änderungen im Waffenrecht zur Wehr setzen, die Ärzte, die für bessere Arbeitsbedingungen demonstrieren, statt allein auf die versprochenen ausländischen Ärzte zu setzen. Ebenso beteiligen sich die Feuerwehren von Rio de Janeiro an den Demos. Und zuletzt: Als kürzlich in Rio die Polizei gegen eine Drogenbande in einer Favela vorging und auch Unschuldige erschoss, demonstrierten die BewohnerInnen, indem sie sich vor der Polizei auf die Straße setzte – sie flohen nicht mehr, wie es sonst üblich ist.
Es scheint, die Brasilianer werden politischer.
Seit 2006 lebt Ralf Henze in Brasilien und hat in diesem Bericht die Situation und seine Eindrücke niedergeschrieben. Dass er nicht falsch liegt, zeigen die ergänzend gesuchten Medienberichte.
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