aus: Gruenlinks-Rundbrief Juni 99

Fuer eine andere gruene Atompolitik
Stellungnahme der Gruenlinks-Initative (AG Atom) Niedersachsen

Unter den kritischen UmweltexpertInnen in aller Welt ist unumstritten, dass es sich bei der Atomtechnologie um eine der problematischsten, wenn nicht sogar um die problematischste Technologie unserer Zeit handelt. Die Auswirkungen der Atomtechnik im Katastrophen- und Normalfall sind von einer zeitlichen und raeumlichen Reichweite sowie von einer Eingriffstiefe in Gegenwart und Zukunft, die mit tradierten Vorstellungen von Technikfolgen nicht mehr zu erfassen sind. Es ist eine Technik, die in der Menschengeschichte eine Zaesur ohnegleichen darstellt. Es geht nicht nur um
marode AKW und um undichte Castoren, um UEberschreitung von Grenzwerten etc. Es geht um den genetischen und sozialen Bestand unserer und der folgenden Generationen.

Das nicht korrigierbare Leid, die soziale Not, die bleibende Strahlenschaedigung der Menschen und die fuer alle Zeiten radioaktiv verseuchten Landstriche in der Ukraine und Belo-Russland als Folge der Tschernobyl-Katastrophe sind beredte Zeichen. Die Legende von den "viel sicheren AKW bei uns" scheint auch bei Gruenen verbreitet zu sein. Wahr ist: Das alles kann auch hier eintreten; mit dem Unterschied, dass bei der viel hoeheren Bevoelkerungsdichte die Schadwirkung erheblicher sein wird. Vor diesem Hintergrund sind alle bisherigen atompolitischen Ansaetze duerftig und unzureichend. Sie waren und sind gepraegt durch ein Gemenge von ueblichen Regierungshandeln, Inkompetenz,
singulaeren Interessen und mangelndem Problembewußtsein. Eine der Problemlage angemessende Atompolitik in Deutschland fand bisher nicht statt. Auch unter einem zustaendigem gruenen Minister sind grundlegende AEnderungen der Atompolitik kaum wahrzunehmen. Die regierungsgruene Atompolitik leidet nicht nur am Ausbremsen durch das Kanzleramt, sondern auch und vor allem am Verkennen der tatsaechlichen Problemdimension.

Politisch liegt eine Situation vor, die nicht nur im Atom- und Wirtschaftsministerium, sondern in allen Ministerien Vorrang haben mueßte. Atompolitik als folgenschwerer Teil von Umweltpolitik betrifft alle Ressorts. Die Atomtechnologie mit ihren irreparablen Folgen hinterlaeßt tiefe Spuren in allen gesellschaftlichen Bereichen.
Ein Ziel unserer Bemuehungen um eine atompolitische Trendwende sollte daher sein, eine Problematisierung in allen Politikbereichen zu erreichen. Was hindert beispielsweise einen gruenen Umweltminister und eine gruene Gesundheitsministerin in dieser Sache (z.B. durch Bildung einer gemeinsamen interministeriellen Arbeitsgruppe) eng und zielgerichtet zusammen zu arbeiten? Sind es Eifersuechteleien, mangelnder Durchblick oder schlicht nur
Abschottung hervorgerufen durch unkritische UEbernahme des tradierten Ressortdenkens?

Anlaesse zur unbedingt notwendigen Kooperation gibt es zuhauf: Strahlenmediziner, Strahlenbiologen und Genetiker weisen seit langem daraufhin, dass der Grad der Strahlenschaedigungen stark abhaengt vom Gesundheitszustand und von der gleichzeitigen Einwirkung anderer Schadstoffe (Synergismus). Hier ist eine geradzu klassische Nahtstelle von
Gesundheitspolitik und Atompolitik. Unermuedlich und bei jeder Gelegenheit mueßte von beiden Ministern sich gegenseitig flankierend insistiert werden, - dass die Freisetzung von Radioaktivitaet alle Lebensbereiche und damit alle
Politikfelder beruehrt, dass Radioaktivitaet unvermeidbar nachhaltige materielle und immaterielle Schaedigungen hervorruft, dass diese Schaedigungen irreversibel und unaufhoerlich sind. Ein Exkurs in die oekopolitische Philosophie zeigt, dass damit die Grundwerte unserer Existenz und die Grundwerte eines Staatsgebildes bedroht sind. Der
Zusammenhang der Politikfelder und die notwendige Vernetzung unter diesen ist unverzichbar. Hier gilt es, alte Strukturen aufzubrechen und unter dem Primat der OEkologie neu zu ordnen.

Die gruenen atompolitischen Maßnahmen und unzureichenden Steuerungsversuche sind gegenwaertig nur auf tagespolitische Ereignisse ausgerichetet. Das allein reicht nicht aus, um den Ausstieg aus einer lebensbedrohenden Technologie zu bewirken. Die Ansaetze muessen grundlegender und gesellschaftsbezogender werden. Die atompolitische Argumentation darf nicht auf Restlaufzeiten und Rueckstellungen reduziert werden. Die durch eine verfehlte Energiepolitik ausgeloesten sozialen Folgen und langfristigen gesellschaftlichen Veraenderungen muessen in der Ausstiegsdebatte staerker in den Vordergrund gerueckt werden.

Atompolitische Versaeumnisse und Fehlleistungen seit dem Regierungswechsel werden treffend durch folgende Zeitungszitate gekennzeichnet (Sammlung seit Regierungswechsel aus FR,taz, Spiegel,SZ). Aus dieser Aufstellung lassen sich die kuenftig zubearbeitenden Teilprobleme ablesen:
- "grundsaetzliche Ablehnung aufgeweicht"
- "Ausstieg auf Raten akzeptiert"
- "Gefaehrdungspotential ist Verhandlungssache"
- "Politpoker bei Restlaufzeiten"
- "Novellierung des AtG auf unbestimmte Zeit verschoben"
- "Genehmigungen von Atomtransporten werden nur noch technisch und juristisch diskutiert"
- "Weiterbetrieb auch ohne Entsorgungsnachweis akzeptiert"
- "Entsorgungsengpass als Mittel zur Stillegung wird nicht genutzt"
- "Taeuschungsversuche der Betreiber werden politisch toleriert"
- "Chance zum Entzug von Betriebsgenehmigungen verstreichen lassen"
- "Grundgesetzwidriger Betrieb von AKW und anderen nukleartechnischen Anlagen spielt in der pol. Auseinandersetzung keine Rolle mehr"
- "Diskussion um Schadwirkung wird durch die Diskussion um Entschaedigungen verdraengt...Geld gegen Leben"
- "Schlußfolgerungen aus den Atomkatastrophen finden politisch keinen Niederschlag"
- "WAA und Castor-Transporte auch unter Rot-Gruen"
- "Wissenschaftler warnen:Schadwirkung durch radioaktive Niedrigstrahlung hoch unterschaetzt"
- Endlagerkriterien ergaenzen und neu bewerten"

Wie geht es weiter?
Nach dieser ersten und sicherlich zu ergaenzenden Analyse sollten wir ein Arbeitsprogramm mit dem Ziel erarbeiten, eine politisch umsetzbare Strategie zu entwickeln. Dabei koennen und sollten wir aufbauen auf Ergebnissen und
Erfahrungen der Anti-AKW-Initativen. Unsere vorrangige Aufgabe sollte sein diese Erkenntnisse fuer parlamentarische und außerparlamentarische Aktivitaeten zu nutzen. Dabei kaeme es darauf an (in Ergaenzung zu den vor Ort agierenden Anti-AKW-Inis), die vielfaeltigen Teilprobleme zu buendeln, politische Eingriffsmoeglichkeiten auf Landes-, Bundes- und EU-Ebene aufzutun und wirkungsvoll (d.h. auch publizistisch) zur Geltung zu bringen. Der Erfolg unserer Bemuehungen wird nicht zuletzt von Weg und Form des Ak's abhaengen. Beide muessen wir gemeinsam finden.

von: Prof. Dr. Rolf Bertram, komissarischer Sprecher des AK-Atompolitik der GrünLinks-Initative Niedersachsen