Beschluß
der 10. Ordentlichen Bundesdelegiertenkonferenz 6.8. März 1998 in Magdeburg, Bördelandhalle |
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Beschlußübersicht | ||
BILDUNGSPOLITIK
von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN |
0. Präambel Die Leitvorstellungen der Bildungspolitik von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sind die der Freiheit und Vielfalt, der Individualität und der Chancengleichheit (B-1/2), der demokratischen, ökologischen und sozialen Verantwortung, der Toleranz und Offenheit. Bildung soll dazu verhelfen, daß Menschen lebenslang in Phasen der Reflexion ihre Handlungsorientierungen und Kenntnisse überprüfen und neue erwerben können. Dies gilt für die Schule ebenso wie für die beruflichen und alle weiteren Bildungsphasen. Unverändert gilt als doppelte Aufgabe der Bildung: die Sachen zu klären und die Menschen zu stärken. In einer demokratischen und zivilen Gesellschaft sind Bildungseinrichtungen der Würde der Lernenden und Lehrenden verpflichtet. Sie sollen als ein demokratischer Ort des Lebens und Lernens gestaltet werden. Sie fordern und fördern geistige Freiheit ebenso wie die soziale und persönliche Verantwortung in dem Prozeß der Bildung und Persönlichkeitsentwicklung. Sie vermitteln nicht nur Wissen, sondern geben Hilfen für eine selbstbestimmtes Leben in Rücksicht auf die Selbstbestimmung anderer. Sie fördern die Sensibilisierung gegenüber sozialen Ungerechtigkeiten und ökologischen Problemen und stehen für die Akzeptanz der kulturellen Vielfalt der Gesellschaft ein. In einer freien Gesellschaft sind die Bildungseinrichtungen Orte der Integration unterschiedlicher Menschen, unterschiedlicher Kulturen und Bildungsvoraussetzungen. Die Schule ist der einzige gesellschaftliche Ort, der alle heranwachsenden Menschen versammelt und ihnen dabei helfen kann und helfen soll, mündige, demokratische Bürgerinnen und Bürger des Landes zu werden. Das kann nur gelingen, wenn die Schule den Individuen Raum und Entscheidungsmöglichkeiten, geistige Freiheit und Möglichkeiten der Teilhabe gibt und Lehrende wie Lernende mehr Verantwortung übernehmen. Eine Gesellschaft mündiger BürgerInnen muß sich ihrer Verantwortung für ihr Handeln und der für die nachwachsende Generationen stärker bewußt werden. Dies wird nur gelingen, wenn die Bürgerinnen und Bürger weniger staatliche Regulierungen erwarten und mehr eigene Gestaltungsoptionen entwickeln. Gesellschaftliche Gruppen und Institutionen, dazu gehören auch Bildungseinrichtungen, Schulen und Hochschulen, müssen selbst ihren Teil dazu beitragen und aktiv die Verantwortung für die Erfüllung dieser Aufgabe übernehmen. Dies hat sowohl inhaltlich wie organisatorisch zur Konsequenz, daß in Schule, Hochschule oder Weiterbildungsinstitutionen Verantwortlichkeit und Zuständigkeit für die jeweils eigene Einrichtung zum Bestandteil von Bildungsprozessen werden. Die Gestaltungsoptionen müssen soweit wie möglich bei den Subjekten von Bildung und nicht in staatlichen Bürokratien liegen. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN halten am Grundsatz des Kulturföderalismus fest und lehnen eine zentrale Zuständigkeit des Bundes für Bildungsfragen ab. Deshalb werden die gemeinsamen Grundpositionen in den Bundesländern je nach den örtlichen Gegebenheiten näher ausgestaltet werden müssen. (B-1/1) |
I. Schule zum Lern- und Lebensort machen |
I.
1. Die Aufgaben der Schule in einer veränderten Gesellschaft - Bündnis 90/Die Grünen treten für eine grundlegende Neugestaltung der Arbeitsweisen und Unterrichtsformen der Schulen ein. Die schwierige Aufgabe besteht heute darin, Kindern und Jugendlichen die Begegnung und Auseinandersetzung mit der Risikogesellschaft zu ermöglichen, ohne sie zu entmutigen und ohne die Gefährdungen zu verharmlosen. Dies ist um so schwieriger in einer Gegenwart, in der einerseits die technischen Möglichkeiten, Wissen und Informationen massiv anwachsen, gleichzeitig die Gefährdung der natürlichen Lebensgrundlagen und der menschlichen Zukunft durch den Prozeß der sozialen, technischen und ökonomischen Naturausbeutung und -zerstörung globale und bedrohliche Ausmaße annimmt. Die ökologische Frage stellt sich grundlegend als Aufgabe der Überprüfung und Veränderung aller Bildungs- und Erziehungsprozesse auf diese gespaltene Zukunft hin und auf die damit verbundene heutige Verantwortung. Die schwierige Aufgabe der Schule besteht auch darin, angesichts einer wachsenden Individualisierung, sozialer Desintegration und der Pluralisierung von Lebensstilen soziale Integration zu fördern. I. 2. Die innere Schulreform als Hauptaufgabe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN setzen sich für den Umbau der "Lernanstalt" Schule zu einem Lebensort ein, "in dem man für das Bestehen dieser Welt wichtige Erfahrungen macht - ein Ort, an dem man den 'Ernstfall' erlebt, ohne ihm zu erliegen." (H. von Hentig). Den Schulen wachsen zusätzliche sozialisierende Aufgaben zu, sie müssen die Sozialisation in der Familie und Peer Group ergänzen. Regeln des zivilisierten Umgangs, die Fähigkeit konzentrierten Arbeitens, kommunikative Kompetenzen müssen nicht selten in der Schule erarbeitet werden. Die Veränderungen der Bildungsziele erfordert andere Organisationsformen des Unterrichts. Sinnliche Erfahrungen und Handlungsorientierung, die soziale Selbstregulierung, Verläßlichkeit der Beziehungen, offene Unterrichtsformen sowie Abkehr vom Lehren und Lernen im Gleichschritt sollen die kognitiven, emotionalen und kulturellen Differenzen in der Schülerschaft und die Umbrüche in der Gesellschaft produktiv aufgreifen. Eine Schule, wie wir sie uns wünschen, ist als ein verläßlicher Ort gestaltet, läßt Unterschiede zu und entwickelt die Vielfalt des eigenen Bildungsangebotes. Eine solche Schule schafft ein Schulleben und handelt die Regeln des Zusammenlernens und -lebens immer wieder neu aus. Sie verteidigt ihre Autonomie nach außen und gewinnt ein produktives Verhältnis zum Engagement der Eltern und SchülerInnen. Wir wollen ein stärker exemplarisches Lernen, ein Lernen, das die Neugier wachhält, die Möglichkeiten des aktiven Aneignens und Erforschens, Entschlüsselns und Verstehens fördert und das Belehren zurückdrängt. Der Übergang zu Wochen- und Jahresplanarbeit, zur freien Arbeit, zu problem-, themen- und projektbezogenem Lernen wird von Bündnis90/Die Grünen unterstützt und gefördert. Das strenge Fachprinzip muß gelockert und der 45-Minuten-Takt des Unterrichts muß weitgehend aufgegeben werden. (B1-6) Ein erster Schritt
dazu ist die Jahresstundentafel (B1-5). Damit kann ein themen- und problembezogener,
fächerübergreifender und an Projekten orientierter Unterricht
organisiert werden. Eine so verstandene Schulreform läßt nicht
alle Schülerinnen und Schüler einer Klasse zur gleichen Zeit
das Gleiche lernen. Sie stärkt ihre Selbständigkeit, sie geht
mit kulturellen, sozialen, ethnischen, kognitiven Unterschieden so um,
daß sie als Bereicherung erfahren werden können. |
I.2.1.
Für einen zeitgemäßen Leistungsbegriff (B1-6)Noten und formalisierte Leistungsmessung lenken nicht nur von Inhalten ab, sondern geben keinerlei Auskunft über Entwicklungen. Sie sind starr und kaum aussagekräftig, da sie die individuelle Lehr-und Lernsituation ausblenden. Das wichtige "Lernen aus Fehlern" darf keine Erfahrung der Demütigung sein, sondern vielmehr ein Ansporn, sich mit Kreativität und Kommunikation weiterzuentwickeln und zu lernen. Zusammen mit einer Auflösung starrer Unterrichts- und Fächerstrukturen lösen wir uns von der absurden Annahme konservativer BildungspolitikerInnen, in einer Klasse könnten alle SchülerInnen zur gleichen Zeit im gleichen Tempo mit der gleichen Methode dieselben Dinge lernen. Wir wollen eine Schule, die Leistungen der Schülerinnen und Schüler herausfordert und sie neben dem Erwerb von Kulturtechniken und fachlichen Kompetenzen dabei fördert, Teamfähigkeit, Konflikt- und Sozialkompetenz, Kommunikationsfähigkeit, Bereitschaft, sich auf Neues einzustellen, und die Fähigkeit, das eigene Leben selbstbestimmt zu organisieren: diese neuen Anforderungen an die nachwachsenden Generationen müssen ihren Niederschlag in der Organisation und im Alltag von Schule finden. I.2.2. Die Schule
öffnen und zum kulturellen Ort machen, Schule am Nachmittag - Schule
als verläßlicher Ort Wir setzen uns für mehr freiwillige kulturelle, sportliche, künstlerische, ökologische, handwerkliche Angebote an Schulen ein. Die Schule soll am Nachmittag ein attraktives Angebot an sinnvollen Freizeitaktivitäten für Kinder und Jugendliche bereit stellen. Dabei soll die Kooperation mit anderen Institutionen angestrebt und die Nachbarschaft einbezogen werden. Wir wollen, daß die Schule ein verläßlicher Ort für Kinder und Jugendliche wird. Alle Grundschulen sollen ein verläßliches zeitliches Angebot von morgens bis mittags garantieren. Eltern sollen sich darauf verlassen können, daß ihre Kinder in den Grundschulen von morgens bis mittags gut aufgehoben sind. I.2.3 Schule
als Lernort für die Emanzipation der Geschlechter (neu) Die Schule hat ihren Anteil daran zu leisten, daß das Geschlechterverhältnis zugunsten eines gleichberechtigten Zusammenlebens verändert wird. Die Zielbestimmung ist der Abbau von Geschlechterhierarchie in der allgemeinen und beruflichen Bildung, auf dem Arbeitsmarkt und in der familialen Arbeitsteilung. Dieses muß sich u.a. niederschlagen in der Interaktion im Klassenzimmer, in den Schulbüchern, in Unterrichtsinhalten und -organisation, in der Aus- und Fortbildung der Lehrkräfte, in der Einstellungs- und Beförderungspolitik insbesondere für Leitungspositionen in Schule und Schulverwaltung, in Modellversuchen von geschlechtshomogenen Gruppen bis hin zur modernen Mädchenschule. I.2.4. Die Schule
nach Europa öffnen - Schule in der Einwanderungsgesellschaft Die Schulgemeinden vollbringen gegenüber den Kindern und Jugendlichen aus Einwandererfamilien eine große Integrationsleistung, Dennoch wird das hiesige Bildungssystem der Tatsache nicht gerecht,, daß die Einwanderung in Deutschland eine gesellschaftliche Realität ist. Das Voraussetzen von gleichen Bedingungen für Kinder von Migrantinnen und Migranten ohne Rücksichtnahme auf ihre spezifische Sozialisation führt zur systemimmanenten Benachteiligung. Aufgrund der vorhandenen Defizite in den Strukturen des Schulsystems wird immer wieder Benachteiligung produziert. (neu) Die Verbesserung der Bildungschancen für zugewanderte Schülerinnen und Schüler und wirkliches interkulturelles Lernen wird dann gelingen, wenn hierfür entsprechende Rahmenbedingungen im Bildungssystem geschaffen werden. Das heißt: ein differenziertes Konzept an Fördermaßnahmen für Kinder von Migrantinnen und Migranten, wobei die Sprachförderung und die Förderung der Herkunftssprache eine zentrale Bedeutung haben, sowie interkulturelle und antirassistische Curricula in den Schulen, die die Pluralität der Gesellschaft widerspiegeln und die Herkunftskultur zum Teil der Schulkultur machen: Wir wollen eine interkulturelle Bildung, die demokratische Gemeinsamkeiten ebenso betont, wie sie kulturelle Differenzen als Bereicherung begreift, die die Vielfalt dieser Kulturen bewußt und erfahrbar macht. Ferner gehören
konsequente Förderprogramme zum Abbau von Sprachdefiziten zugewanderter
SchülerInnen und gezielte Förderung von Maßnahmen zum
Erwerb fehlender Schulabschlüsse sowie strukturverbessernde Maßnahmen
für Schulen mit hohem Anteil an zugewanderter SchülerInnen zu
unseren Zielen für diesen Bereich. (B1-31) |
I.2.5. Schule
und Religion Werte- und Sinnfragen gehören ebenso in die Schule wie die Begegnung und Auseinandersetzung mit Religionen. Sie dienen dem gegenseitigen Verständnis von Schülerinnen und Schülern unterschiedlicher kultureller und religiöser Zugehörigkeit und helfen, eigene und fremde Weltdeutungen des Lebens wahrzunehmen und sich mit Begründungszusammenhängen menschlichen Handelns auseinanderzusetzen. Das Grundgesetz geht in seinen Aussagen zum Religionsunterricht von einer volkskirchlichen Situation aus, die heute vielfach nicht mehr besteht. Angesichts der in den Bundesländern verschieden gewachsenen Traditionen treten wir für föderale Vielfalt ein - auch in der Frage, wie Religion in der Schule vorkommt. Nur wenn in verschiedenen Situationen auch unterschiedliche Wege gegangen oder ausprobiert werden können, werden sich situations- und zeitadäquate Lösungen entwickeln. Eine Änderung des Grundgesetzartikels 7.3. wäre die dafür beste Voraussetzung. Allerdings haben die Kirchen auch unterhalb einer Grundgesetzänderung bereits heute die Möglichkeit, GG 7.3 so zu interpretieren, daß verschiedene Entwicklungswege möglich werden. I.2.6. Globales
Lernen Schule als ökologischer Lernort Ökologische Bildung und globales Lernen werden glaubwürdig nur dann gelingen, wenn lokal die Schule selbst zum ökologischen Lernort wird und die Schulgemeinde dafür ihre Verantwortung wahrnimmt. Schulhofgestaltung, die Gestaltung der Klassenzimmer und Schulgebäude, eine schulische Energieversorgung, welche sichtbar die möglichen Einspartechniken nutzt, alltäglicher Einsatz für Müllvermeidung, gesunde Schulernährung kann und soll in eine praktische und lebensnahe Umweltbildung und -erziehung für alle Beteiligten eingebracht werden. I.3.
Für den gemeinsamen Unterricht - Das gemeinsame Leben und Lernen von behinderten und nichtbehinderten Menschen ist grundlegendes Ziel bündnisgrüner Politik, dies gilt auch für den gemeinsamen Unterricht. An vielen Grundschulen und mittlerweile auch in einigen Schulen der Sekundarstufe ist dies für viele Kinder schon gelebter und erfolgreicher Schulalltag. Das Ziel des gemeinsamen Unterrichts ist es, Unterricht so zu verändern, daß kein Kind aufgrund seines Leistungsvermögens eine andere Schule als die seines Stadtteils, seines Ortes besuchen muß. Wir wollen, daß alle Schulen integrative Schulen werden und soweit mit sonderpädagogischer Kompetenz ausgestattet sind, daß sie Kinder und Jugendliche mit Behinderungen, ohne sie auszusondern, unterrichten und erziehen können. Kein Kind darf wegen einer Behinderung oder wegen eines mangelnden Lernvermögens von einer allgemeinen Schule abgewiesen werden können. I.4. Die Schulstufen und Schulformen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN setzen sich für eine altersgemäße Stufung des Schulsystems ein. Die erste Stufe, die Schule für Kinder, umfaßt die Schuljahrgänge 1 bis 6. Darauf baut die Schule für die Jugend auf und umfaßt die Schuljahrgänge 7 bis 10. Sie führt zu den ersten Abschlüssen, wobei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sich mit der Abschaffung des Hauptschulabschlusses (B1-25) für einen einheitlichen Abschluß dieser Stufe einsetzen. Der Abschluß soll den Übergang in die Berufsausbildung und in sonstige weiterführende berufs- und studienqualifizierende Bildungsgänge ermöglichen. Die Schule für Heranwachsende und junge Erwachsene baut auf dieser Stufe auf und umfaßt in der Regel (B1-24) die Jahrgänge 11 bis 13 . Sie ermöglicht studien- und berufsqualifizierende Abschlüsse. Die Organisation und gegebenenfalls auch Zusammenführung der Schulstufen können auch zukünftig länderspezifisch ausgestaltet werden. Kein Bildungsgang darf in eine Sackgasse führen, alle Bildungsgänge sind durchlässig zu gestalten. In den Schulen, die in der Regel die Jahrgangsstufe 11 bis 13 umfassen, sollen alle Abschlüsse erreichbar sein. Die bisher nur partiell gelockerte Abschottung von allgemeinbildenden und berufsbildenden Bildungsgängen muß bis zur Ebene der Hochschulzugangsberechtigung aufgehoben werden. Eine solche Organisation bleibt langfristiges Ziel einer zeitgemäßen Bildungspolitik, deren Prinzipien Offenheit und Durchlässigkeit sind. Die Schule für alle Kinder und Jugendlichen in der Sekundarstufe I wird (B-1/25) auf absehbare Zeit nicht durchsetzbar sein. Es gilt, alle Ansätze, die in diese Richtung gehen, zu unterstützen und die innere Reform der bestehenden Schulen voranzubringen. Es sind nicht zuletzt die Eltern, aber auch die Schülerinnen und Schüler, die durch ihre Entscheidungen Dynamik in die zerklüftete Schullandschaft bringen. An ihnen und besonders den Eltern vorbei oder gar gegen sie wird keine Schulreform Erfolg haben. Auf absehbare Zeit wird die Schule für alle Kinder und Jugendlichen, wie sie von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN angestrebt wird, in der Konkurrenz zum Gymnasium bestehen müssen.( kontrovers zu B-1-1.2) Leitlinie bündnisgrüner Bildungspolitik sind die Bildungsinteressen und die Entwicklung aller Schülerinnen und Schüler aller Schulformen, Ziel ist es, ihre Lern- und Lebenssituation zu verbessern: Reformpädagogik für alle. I.5. Die Lehrerinnen und Lehrer und ihre Ausbildung Für eine reformierte Schule brauchen wir eine umfassende Reform der LehrerInnenausbildung und -fortbildung. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN setzen sich für eine wissenschaftliche und berufspraktische Ausbildung von gleicher Dauer für Lehrerinnen und Lehrern aller Schulformen ein. (B-1/1) Die Ausbildung in der ersten und zweiten Phase muß verzahnt werden, Studierende brauchen frühzeitig eine Rückmeldung über ihre Motivation und Fähigkeiten als Lehrkraft. Von Beginn der Ausbildung an gehören praktische Elemente zu den unverzichtbaren Bestandteilen des Studiums. Die Aufgaben der veränderten Schule als Lern- und Lebensort, als Ort, an dem Integration geschieht, einer Schule mit erweiterten Gestaltungsmöglichkeiten und Kompetenzen verlangen eine grundlegende Neukonzeption der LehrerInnenaus- und -fortbildung. Wir fordern verpflichtende Praktika in Schule, Wirtschaft und sozialen Einrichtungen; Sonder- und Sozialpädagogik als Teil der grundständigen Ausbildung; interkulturelle Erziehung und Managementausbildung als Teil der Ausbildung (B-1/28). Eine Qualifizierung für den Unterricht in zweisprachigen Bildungsgängen gehört, wie auch die rechtliche und soziale Gleichstellung der ausländischen Lehrkräfte, zu unseren Forderungen (B-1/31). Für BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ist die Abschaffung des Beamtenstatus gerade im Lehrberuf überfällig. Lehrkräfte aus der Europäischen Gemeinschaft und aus der in Deutschland aufgewachsenen Generation der Zuwanderer sollen für die deutschen Schulen und für den Regelunterricht gewonnen werden. I.6. Schulreform in der Demokratie Der Staat hat allen jungen Menschen das Recht auf Bildung zu gewähren. Er hat gleiche Zugangschancen zu den Bildungseinrichtungen, gleiche Rechte für die Schülerinnen und Schüler und ihre Eltern zu gewährleisten und Diskriminierungen Einzelner oder von Gruppen von Schülerinnen und Schülern aktiv entgegenzuwirken. Demokratie darf nicht auf ein Thema der Geschichts- und Gemeinschaftskunde reduziert werden. Sie muß insbesondere für Schülerinnen und Schüler zur gelebten Erfahrung an Schulen werden. Wir setzen uns für einen Ausbau der SchülerInnenrechte ein. Diese können u.a. durch: Kommunale SchülerInnenräte, Kreis-, Landes- und BundesschülerInnenräte mit entsprechenden Kompetenzen, das Recht SchülerInnenversammlungen und SchülerInnentage einzuberufen und einer weiteren Stärkung der SchülerInnenvertretung (B-1/28). Staatliche Bildungspolitik kann die gute Schule nicht verordnen. Demokratische Schulreform ist heute mehr denn je auf das Engagement der Lehrkräfte, Schülerinnen und Schüler und der Eltern angewiesen und auf die Dauer nur erfolgreich, wenn sie die Zustimmung der Mehrheit dieser Gruppen gewinnt. Das entbindet bündnisgrüne BildungspolitikerInnen nicht von einer aktiven Politik durch die rechtliche Rahmensetzung, die Ermutigung von Reformkräften und -ansätzen, von Schulversuchen und Schulmodellen. Die Bildungspolitik von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN muß in den gegebenen Situationen die Reforminitiativen und Kräfte für eine kinderfreundliche, pädagogisch innovative und demokratische Schule unterstützen. I.7.
Autonomie der Schule - Verantwortung für die Zukunft Wir wollen den Schulen mehr Gestaltungsfreiheit geben, sie sollen mehr Entscheidungsrechte, curriculare Freiheit, ein eigenes Budget und Rechte bei der Personalauswahl erhalten. Die in den Schulen Arbeitenden und Lernenden sollen die Angelegenheiten der Schule weitgehend selber regeln. So wächst ihre Verantwortung in der Wahrnehmung ihrer gesellschaftlichen Aufgaben im Umgang mit den ihnen zur Verfügung gestellten Ressourcen. Die Verantwortung des Staates für die Schulen soll nicht aufgehoben werden. Wir wollen die Ergebnisse der Arbeit der Schulen durch interne und externe Evaluationsprozesse öffentlich und transparent machen. SchülerInnen und Eltern, aber auch die LehrerInnen, haben ein Recht, abgesicherte Aussagen über die Ergebnisse der Arbeit einer Schule zu bekommen. Der Staat bleibt dabei in der Verantwortung, er fordert und sichert einen Mindeststandard der Bildungsarbeit. Diese neue Form der Steuerung beinhaltet andere Formen von Kommunikation zwischen Verwaltungen und Schulen. Steuerungsziele werden durch Vereinbarungen, Rechenschaftspflichten und transparente Mittelvergaben erreicht. Eine autonome Schule braucht eine pädagogisch initiative und demokratisch legitimierte, d.h. gewählte Schulleitung. Sie soll zeitlich befristet sein und auf ein arbeitsfähiges Team beschränkt werden. Die anspruchsvolle Aufgabe der Schulleitung setzt eine eigenständige Qualifizierung voraus. Die autonome Schule braucht ein demokratisches Verhandlungs-, Beratungs- und Entscheidungsorgan. Die Schulkonferenz aus SchülerInnen, Eltern und Lehrkräften sowie der Schulleitung entscheidet über die wichtigen Dinge des Schullebens, das Schulprogramm und den Schulhaushalt. I.7.2. Chancengleichheit
gewährleisten Eine größere Autonomie von Schule darf nicht dazu führen, daß Einrichtungen, die in sozial benachteiligten Gebieten liegen, zu den Verlierern der Schulautonomie werden. Sie sollen durch besondere Zuwendungen an Geld, Stellen, Beratung und/oder Investitionen gefördert werden, um so einen Ausgleich zu schaffen. I.8. Andere Lern- und Arbeitszeiten Eine autonome, kooperative Schule erfordert ein anderes Verständnis der Lehrerrolle und eine andere Regelung der Lehrerarbeitszeit. LehrerInnen sollen Lernprozesse moderieren und Verantwortung für die Gestaltung der Schule übernehmen. Nur durch in der Schule praktizierte Kooperation kann der Streß im Beruf vermindert und die Qualität der Arbeit verbessert werden. Die Lehrkräfte müssen Kooperation, Qualitätsverbesserung und Selbstverwaltung zum verbindlichen Teil ihres Arbeitsalltags machen. Darin sind Tätigkeiten wie Beratung, Planung und Nachbereitung von Unterrichtsprojekten, Evaluation, Schulprogramm, Schulentwicklung und Fort- und Weiterbildung als fester Bestandteil der schulischen Arbeitszeit enthalten. Für SchülerInnen und Eltern ist eine verläßliche Präsenz der Lehrkräfte eine unabdingbare Voraussetzung. Eine neue Arbeitszeitregelung muß daher einen entsprechenden Aufgabenkatalog für die einzelne Lehrkraft und ein entsprechendes Zeitbudget für die Schule festgelegt werden. Die Arbeitszeit der Lehrkräfte orientiert sich dann nicht wie heute an der Unterrichtsstundenzahl, sondern legt die Jahresarbeitszeit des öffentlichen Dienstes zugrunde. Ein Zeitsegment bleibt in der individuellen Verfügung der Lehrkräfte, der Rest wird von der Schule als Budget auf die Tätigkeiten und Aufgaben in der Schule verteilt. I.9. Freie Schulen: Katalysatoren in der Bildungslandschaft BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN setzen sich für reformpädagogische Schulen in freier, gemeinnütziger Trägerschaft ein, die nicht selten Vorbild für die öffentlichen Schulen waren und sind. Die Länder müssen diese Schulen stärker unterstützen. Wir wollen mehr Vielfalt in der Bildungslandschaft. Elterninitiativen und freie Träger müssen erleichterte Möglichkeiten der Schulgründung bekommen. Die Hindernisse im Genehmigungsverfahren müssen abgebaut und die Wartefristen bis zur Bezuschussung der Schulen abgeschafft werden. Allerdings muß die Qualität der Bildungsarbeit auch an freien Schulen evaluiert werden. Jede Schülerin, jeder Schüler einer Schule in freier Trägerschaft hat einen Anspruch auf die gleiche Zuwendung aus der Staatskasse wie die Schülerinnen und Schüler staatlicher Schulen. Dabei müssen die Schulen in freier Trägerschaft auch einen sozialverträglichen Beitrag zu ihrer Finanzierung leisten. Für die Schulen in freier Trägerschaft gelten wie für staatliche Schulen das Demokratiegebot und der Wertekonsens der Verfassung sowie die allgemeinen Bildungsziele der jeweiligen Landesgesetze. Es ist anzustreben, daß freie und öffentliche Schulen miteinander in einen stärkeren Austausch um ihre pädagogischen Intentionen treten. Schulen in freier, gemeinnütziger Trägerschaft können dann ein wichtiger Katalysator in der Bildungslandschaft sein. II. Berufliche Bildung und Weiterbildung -Von der Informations- zur Lerngesellschaft II.1. Erwerbsarbeit in Deutschland: Traditionen, Handlungsmaximen, Perspektiven Wir wollen, daß jeder Mensch im "aktiven", erwerbstätigen Alter sich beruflich bilden und weiterbilden kann. Die Bildungspolitik von Bündnis 90/Die Grünen muß auf die berufliche, allgemeine, politische und kulturelle Weiterbildung ein Schwergewicht legen, damit junge und ältere Menschen mit den Anforderungen des Wandels der Arbeitswelt umgehen können und ihm nicht ausgeliefert sind (B1/23.2). Zeiten der Erwerbslosigkeit müssen als Bildungsphasen produktiv genutzt werden. Die Beschäftigungsmöglichkeiten im gewerblich-technischen Sektor haben in den letzten Jahren bereits deutlich abgenommen und werden weiter zurückgehen. In den Bereichen Neue Medien, der Umwelttechnologien, insbesondere auch bei den sozialen Dienstleistungen werden und müssen viele neue Berufsbilder entstehen. Grundsätzlich besteht im Dienstleistungssektor der größte Nachholbedarf in der Entwicklung neuer Berufsbilder und geordneter Ausbildungsgänge. Die Berufsarbeit wird insgesamt vielfältiger, wechselhafter - Berufsbilder ändern sich schneller, neue entstehen, immer wieder müssen Qualifikationen nachträglich erworben oder muß ein neuer Beruf ausgeübt werden. Die Risiken und Brüche in den Arbeitsbiografien werden größer. Beruflicher Bildung und Weiterbildung kommt in diesen kulturellen Umwälzungsprozessen und den Risiken der Arbeitslosigkeit eine Brücken- und Bindegliedfunktion zu (B1/23.3). Aus dieser Entwicklung ergeben sich aber auch erhebliche Chancen zu gesellschaftlichen Neuorientierungen und Umwertungen der bisher weitgehend männlich geprägten Erwerbsarbeit. Die Politik von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wird die Individualisierung der Berufsarbeit, die Vielfalt beruflicher Tätigkeiten fördern. Wir unterstützen die Erweiterung der Gestaltungs- und Teilhabemöglichkeiten der Menschen. Unser Ziel ist es, in der Aus- und Weiterbildung und in der Erwerbsarbeit den Menschen die Möglichkeit anzubieten, Entscheidungskompetenzen und ihre kreative Fähigkeiten zu erweitern, mehr Verantwortung zu tragen und ihren Sachverstand auszubilden (B1/23.4). II.2. Das duale System der Berufsausbildung In der Vergangenheit war das System der beruflichen Erstausbildung in Deutschland im großen und ganzen erfolgreich. Es sicherte im europäischen Vergleich einen hohen Qualitätsstandard in der beruflichen Erstausbildung und öffnete für die große Mehrheit der jungen Menschen den Weg in die Erwerbstätigkeit. Die duale Ausbildung in Betrieb und Berufsschule sicherte einerseits eine große Praxis- und Marktnähe der Ausbildung und andererseits die Vermittlung übergreifenden Wissens, es schuf Räume zur Reflexion beruflicher Tätigkeit. Das duale System führte zu einer vergleichsweise geringen Arbeitslosigkeit unter Jugendlichen und jungen Menschen, wenngleich auch innerhalb dieses Systems es immer Verlierer und Benachteiligte gab. Die heutige Krise des dualen Systems wird nicht nur durch den Abbau von Ausbildungsplätzen und den Rückzug von immer mehr Betrieben aus der Ausbildung deutlich. Ein Krisensymptom ist auch die hohe Abbrecherquote, ein Viertel aller Ausbildungsverhältnisse werden vorzeitig beendet. Von diesen Abbrechern finden viele nicht mehr den Zugang zu einer beruflichen Ausbildung. Gleichzeitig steigt die Zahl derjenigen, die direkt nach einer erfolgreichen Ausbildung keine entsprechende Arbeit finden. Andererseits arbeitet schon wenige Jahre nach einer Berufsausbildung ein hoher Anteil der Ausgebildeten nicht mehr im erlernten Beruf. Das duale System reagiert zu langsam auf Veränderungen der Beschäftigungsstruktur, auf den Wandel zur Informations- und Dienstleistungsgesellschaft; es dominieren immer noch die gewerblichen und klassischen handwerklichen Berufe. Insofern entsteht eine wachsende Schere zwischen dem System der geregelten Berufe und der Struktur der Tätigkeiten in der Erwerbswelt. Angesichts der wachsenden Herausforderungen und der Verwissenschaftlichung der beruflichen Tätigkeitsfelder wollen wir auch wissenschaftlich geprägte Ausbildungsformen, z.B. duale Fachhochschulstudiengänge ausbauen und stärken. II.2.1. Vielfältige
Wege von der beruflichen Bildung zur wissenschaftlichen Bildung Andererseits müssen Kenntnisse über das Berufsleben verstärkt in den allgemeinbildenden Schulen erworben werden. Betriebspraktika, die Auseinandersetzung mit der Berufs- und Betriebswirklichkeit, mit dem Arbeitsmarkt und der Berufsrolle müssen verbindlicher Bestandteil der Unterrichtspraxis aller Schulformen des allgemeinbildenden Schulwesens werden. II.2.2. Berufliche
Schule als kompetenter Partner in der Berufsausbildung Bündnis 90/DIE GRÜNEN fordern den Erhalt von mindestens 480 Jahresstunden Unterricht in der Berufsschule. Dabei muß die Vielfalt und Flexibilität der Organisationsformen erhalten bleiben; es muß auch weiterhin die Möglichkeit des 2. Berufsschultages gegeben sein. (neu + B1/27) Berufliche Schulen müssen in die Lage versetzt werden, die Koordination zwischen den unterschiedlichen Lernorten wahrzunehmen. Sie müssen die Möglichkeit haben, innerhalb der Bildungsgänge unterschiedliche Profilierungen zu organisieren. Ihre Kooperation mit den allgemeinbildenden Schulen und Betrieben muß verbessert werden. Berufliche Schulen müssen sich qualifizierende Dienstleistungen von außen einkaufen können. Auch aus diesem Grunde brauchen berufsbildende Schulen weitgehende Autonomie. Berufliche Schulen sollen sich zu Zentren der Aus- und Weiterbildung entwickeln. Diese bieten in der gesamten Qualifikationsbreite Bildungsgänge der Berufsschule im dualen System, Bildungsgänge zur vollzeitschulischen Berufs- und Studienqualifizierung und Bildungsgänge der beruflichen und allgemeinen Weiterbildung an. II.2.3. Berufs-
und weiterbildungspolitische Handlungsfelder: Frauen gleichberechtigen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN halten neben einem auch für die Ausbildung in Betrieben und Verwaltungen geltendes Antidiskriminierungsgesetz mit klaren Quotierungsregelungen und verbindlichen Frauenförderplänen ein breites Spektrum frauenfördernder Maßnahmen für erforderlich. Staatliche Maßnahmen des Bundes und der Länder zur Förderung von Ausbildungsplätzen sind mit frauenfördernden Auflagen und Anreizen zu versehen. Ebenso ist die Vergabe öffentlicher Aufträge auch zur Frauenförderung in der Ausbildung zu nutzen. II.2.4. Ökologische
Bildung: Für einen anderen Umgang mit Ressourcen, Natur und Zeit
und für die Gestaltung einer ökologisch verträglichen Wirtschaft
II.2.5. Berufliche
Integration und Perspektiven: Berufsausbildung und Weiterbildung für
und mit MigrantInnen II.2.6. Berufsausbildung
und Qualifizierung für benachteiligte Jugendliche Für benachteiligte Jugendliche sind aber auch Qualifizierungsformen, die nicht in das bisherige Leitbild "duales System" passen, weil sie beispielsweise nur einen Teil der bisherigen dreijährigen Qualifikationen vermitteln, zu organisieren. Allerdings muß eine entsprechende Zertifizierung gewährleistet sein, damit die erworbenen Qualifikationen für weitere Ausbildungen verwertbar sind. Das Ziel ist eine bestmögliche dauerhafte berufliche und soziale Integration bildungs-benachteiligter Jugendlicher. Dies ist nur dann zu erreichen, wenn diese Jugendlichen möglichst in qualifizierten anerkannten Ausbildungsberufen ausgebildet werden. Bündnis 90/DIE GRÜNEN lehnen die Schaffung von Sonderberufen entschieden ab, die auf Verkürzung der Ausbildungszeit und Minderung der theoretischen Inhalte basieren Wir befürworten ein Modell, das die Voraussetzungen betroffener Jugendlicher individuell berücksichtigt und die Option eröffnet, Fördermaßnahmen bis zum Niveau der Behindertenförderung anzubieten (B1-20 neu). Die Programme der Bundesanstalt für Arbeit, die für Benachteiligte und Behinderte wirken, dürfen nicht gekürzt werden, wie die Bundesregierung es zur Zeit umsetzt, sondern sie müssen ausgeweitet werden, solange nicht eine solidarische Ausbildungsfinanzierung auch für diese jungen Menschen greift. Durch Landesprogramme, Bündelung von Sozialhilfe, Mitteln der Arbeitsverwaltung, Mittel aus den Europäischen Sozialfonds muß für die Qualifizierung von Jugendlichen ein Schwerpunkt in der Arbeitsmarkt- und Bildungspolitik gesetzt werden. Diese Maßnahmen müssen regional koordiniert werden (B1/23.8). II.3. Europa ist Vielfalt Die Vielfalt der Formen von beruflicher Bildung in den Mitgliedstaaten der EU ist grundsätzlich zu begrüßen und beizubehalten. Wir wollen in Europa Transparenz hinsichtlich der erworbenen Qualifikationen und eine gegenseitige Anerkennung von Abschlüssen erreichen. Außerdem streben wir die Ausweitung von Kooperationen in der EU an, so daß insbesondere die Auszubildenden internationale Kontakte aufbauen und erleben können (B1/23/9). II.4. Ausbildung ermöglichen und solidarisch finanzieren BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wollen erreichen, daß jedem Jugendlichen der Weg in eine berufliche Erstausbildung offensteht. Der gegenwärtige Ausbildungsplatzmangel hat vielfältige, auch strukturelle Ursachen, daher wird eine einzelne Maßnahme nicht ausreichen, um dieses Problem zu lösen. Die Verantwortung für ein ausreichendes Angebot an betrieblichen Ausbildungsplätzen liegt bei den Arbeitgebern. Grundsätzlich alle ausbildungswilligen Jugendlichen sollen die Chance erhalten, einen qualifizierten Ausbildungsplatz zu bekommen. "Das gilt auch dann, wenn das freie Spiel der Kräfte zur Erfüllung der übernommenen Aufgaben nicht mehr ausreichen sollte." (Bundesverfassungsgericht). Das Recht auf qualifizierte Erstausbildung für alle Jugendlichen ist nur einzulösen, wenn ein auswahlfähiges regionales Ausbildungsplatzangebot garantiert wird. Die Einführung einer Ausbildungsplatzumlage für nicht ausreichend ausbildende private und öffentliche Arbeitgeber halten wir dann für notwendig, wenn alle anderen arbeitsmarktbezogenen und die Ausbildungsbereitschaft der Unternehmen fördernde Maßnahmen keine wesentlichen Wirkungen zeigen. Betriebe und Verwaltungen, die überproportional ausbilden, erhalten die entsprechenden Ausbildungskosten aus der Umlage ersetzt. Die Umlage soll vorrangig für die Schaffung betrieblicher Ausbildungsplätze verwendet werden. (B1-3+4) Damit wird festgeschrieben, daß die Verantwortung für ein ausreichendes Ausbildungsplatzangebot auf der Seite der Arbeitgeber liegt und nicht auf den Staat, die Tarifpartner oder die Sozialversicherungssysteme übergeht. II.5. Die Zukunftsberufe im Gesundheits- und Sozialwesen neu ordnen Die "weiblichen" reproduktiven Berufe des Sozial- und Gesundheitswesens sind in der Regel nicht dual geordnet, das Berufsbildungsgesetz (BBiG) gilt für sie nicht - und das nicht aus Zufall. Kirchen, Wohlfahrtsverbände und nicht zuletzt der Staat haben dies bis heute verhindert. Berufsqualifikationen in diesem Bereich werden in einer chaotischen Vielfalt von wenig geordneten Qualifizierungsgängen geregelt, die oft als sogenannte "Weiterbildung" mit erschwerten Zugangsbedingungen wie bei den ErzieherInnen und der Altenpflege deklariert werden. Das Ergebnis ist für fast alle dieser Berufe gleich: Sie enden in der beruflichen Sackgasse und bieten den AbsolventInnen kaum berufliche Entwicklungsperspektiven. Es gibt im Regelfall weder akademische Bildungsgänge noch berufsbezogene systematische Weiterbildungsmöglichkeiten, die unabhängig vom Arbeitgeber genutzt werden können. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN fordern, diese Berufe in ein reformiertes Berufsbildungsgesetz aufzunehmen und damit aus ihrer Sonderrolle zu lösen. In allen diesen Berufen müssen geregelte Aufstiegsmöglichkeiten und berufsbezogene systematische Weiterbildungsmöglichkeiten eingerichtete werden. II.6. Mobilisierung für Ausbildung: Die grüne Maus In Anbetracht des akuten Mangels an Ausbildungsplätzen ist es notwendig, alle möglichen Reserven bestehender Einrichtungen zu mobilisieren. Die Bündnisgrünen fordern eine Mobilisierung für Ausbildung als Sofortprogramm. Dieses soll enthalten:
II.7.
Weiterbildung Notwendigkeit und Grenzen "lebenslangen Lernens":
"Bildung/Erziehung einschließlich formaler Bildung, öffentliche Bewußtseinsbildung und berufliche Ausbildung sind als ein Prozeß zu sehen, mit dessen Hilfe die Menschen als Einzelpersonen und die Gesellschaft als Ganzes ihr Potential voll ausschöpfen können. Bildung ist eine unerläßliche Voraussetzung für die Förderung einer nachhaltigen Entwicklung und die Verbesserung der Fähigkeit der Menschen, sich mit Umwelt- und Entwicklungsfragen auseinanderzusetzen" (Agenda 21/ 36.3). Das Bildungssystem muß auf eine lebensbegleitende Möglichkeit der Weiterbildung hin gestaltet werden. Weiterbildung schafft Freiräume und die Qualifikationsbasis für kreative Entwicklungsprozesse und eröffnet Chancen der Persönlichkeitsbildung. Studium und berufliche Erstausbildung sind somit immer weniger die Eintrittskarte in eine lebenslange Berufstätigkeit, sondern lediglich die Basis für notwendig folgende Bausteine einer allseitigen Weiterbildung, um den sich ständig ändernden Anforderungen zu genügen oder auch berufliche Neuorientierungen zu ermöglichen. Das Lernen zu lernen gehört daher zu den wesentlichen Gestaltungsprinzipien aller Weiterbildungsprozesse. Das erfordert allerdings überhaupt erst einmal die Bedingungen der Möglichkeit zu einer solchen Wahl. Es erfordert Gleichberechtigung im Zugang zu Weiterbildungsmöglichkeiten und einen Bewußtseinswandel in der Gesellschaft bezüglich des Wertes der Bildung. Diese Herausforderung an eine zukünftige Weiterbildungspolitik verlangt die Einrichtung von Bausteinsystemen, Modulen und Zertifikaten sowie die Möglichkeit des Erwerbs von Schulabschlüssen unabhängig vom Lebensalter. Für die Beschäftigten in der Weiterbildung, die nicht in tarifähnlichen Arbeitsverhältnissen angestellt sind, ist eine soziale Absicherung, vergleichbar der Künstlersozialversicherung einzurichten (B1-14). II.8. Konzepte und Strukturen: den Wandel im beruflichen Lernen und in der Weiterbildung gestalten Die Weiter- und Erwachsenenbildung ist für uns ein Teil der öffentlichen Daseinsvorsorge. Sie erstreckt sich auf die Förderung von beruflichen, politischen, allgemeinen und kulturellen Bildungsangeboten. Dieser vierte Bereich des Bildungswesens nach Schule, Berufsausbildung und Hochschule ist zur Zeit völlig unüberschaubar, in der Qualität oft fragwürdig und in der Zertifizierung erworbener Kenntnisse ungeregelt. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN fordern eine Neuordnung der Weiterbildung und Verzahnung mit den bestehenden Bildungsinstitutionen. Wir wollen eine Rahmenregelung, die diesen Bereich nicht verstaatlicht, sondern transparent macht, Mindestqualität sichert und bundesweit anerkannte Nachweise für die erworbene Bildung schafft. Die betriebliche Weiterbildung wird sich zukünftig nicht mehr auf die Umsetzung arbeitsorganisatorischer und technologischer Innovationen in Mitarbeiterqualifikation beschränken können. In der Personalentwicklung der Unternehmen muß das Recht auf Weiterbildung mit entsprechenden Auswahlrechten und Entscheidungskompetenzen der Beschäftigten aufgenommen werden. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schlagen vor, die Unüberschaubarkeit und Ungeregeltheit in der beruflichen, der betrieblichen Weiterbildung und in der Erwachsenenbildung durch eine Modularisierung der Angebote zu überwinden. Eine Strukturierung der beruflichen Weiterbildung in Modulen ermöglicht Transparenz und Qualitätssicherung und eine flexible und bedarfsgemäße Kombination der Angebote. Sie eröffnet damit die Perspektive bundes- und europaweiter Anerkennung und Zertifizierung. Die berufliche Aus- und Weiterbildung darf sich dabei einer Verbesserung des Qualitätsmanagements nicht entziehen. Im Sinne von VerbraucherInnenschutz, für AnbieterInnen und einstellende Betriebe ist die Entwicklung von Mindeststandards für die Qualität der Angebote und ein vergleichbares Zertifizierungssystem dringend geboten(B 1/23.16). II. 9. "Was Hänschen nicht lernt" Die veränderten Anforderungen an ein modernes Berufs- und Weiterbildungssystem werden Konsequenzen für den bislang klassischen Bereich des Zugangs zum Hochschulstudium für qualifizierte Berufserfahrene haben: den Zweiten Bildungsweg (B 1/23.17). Er sollte sich - wenn das Hochschulsystem und das Berufsbildungssystem durchlässiger geworden sind - insbesondere der Förderung von speziellen Gruppen widmen. Die Bedeutung von Sinn- und Perspektivfragen, der Wunsch nach Hilfen bei einer nicht nur beruflichen Umorientierung werden weiter zunehmen und dies nicht nur bei Familienmännern und -frauen, MigrantInnen der zweiten und dritten Generation, AussiedlerInnen und Menschen mit und ohne Berufsausbildung. Die Angebote des Zweiten Bildungsweges müssen heute schon stärker auf diese Gruppen zugeschnitten werden. II.10. Transparenz und Vergleichbarkeit - öffentliche Verantwortung in der Berufs- und Weiterbildung Öffentlich verantwortete Weiterbildung muß auf die Integration von allgemeiner, politischer, beruflicher und kultureller Weiterbildung setzen. Sie muß offen sein für alle Weiterbildungsinteressierten. Sie hat die Aufgabe, gerade auch bildungsferne oder benachteiligte Gruppen aktiv anzusprechen, zu informieren und für deren Zugang zur Weiterbildung zu werben. Erst dann kann der Anspruch von Aufklärung und innovativem Lernen im Weiterbildungsbereich verantwortlich umgesetzt werden. Weiterbildungspolitik muß Strukturen schaffen, die allen Menschen eine einigermaßen planbare, auf die eigenen Voraussetzungen und Bedürfnisse abgestimmte Lernbiographie ermöglicht. Wir brauchen öffentliche Verantwortung für die Weiterbildung. Öffentliche Verantwortung heißt für uns jedoch nicht Verstaatlichung der Angebote. Ausgangspunkt ist die Pluralität der Träger und Rechtsformen bestehender Einrichtungen und Initiativen. Sie ist Ausdruck für die Pluralität der gesellschaftlichen Wirklichkeit - und soll dieses auch in Zukunft bleiben. Sie kann nicht zuletzt aufgrund ihrer Flexibilität und Innovationskraft als entwicklungsfähig angesehen werden. II.11. Für eine gesetzliche Neuregelung der Berufsaus- und Weiterbildung (BauWeiter) Das Berufsbildungsgesetz und die Weiterbildungsgesetze (einschlie?lich. Freistellungs- und Bildungsurlaubsgesetze) der Länder werden den Anforderungen an eine zeitgemäße berufliche Qualifizierung nicht mehr gerecht. Die Strukturen der beruflichen Qualifizierung, der Weiterbildung müssen grundlegend neu gestaltet werden. Ziel der Gesetze soll die Verwirklichung des Rechtes auf eine berufliche Erstausbildung für alle Jugendlichen und auf eine berufliche und allgemeine Weiterbildung sein. Es soll erreicht werden, die Einrichtungen der bisherigen Aus-, und Weiterbildung zu mehr Kooperation zu veranlassen und den Zugang für alle freier zu gestalten. Kernpunkt soll die Neuordnung des Verhältnisses von Erstausbildung und Weiterbildung sein. Im einzelnen sollen die Gesetze die Regelung folgender Eckpunkte enthalten:
Es wird die Aufgabe der Bundestagsfraktion sein, eine Novellierung des Berufsbildungsgesetzes und ein Weiterbildungsrahmengesetz einzubringen. (B1-27) III. Bildungsausgaben und Finanzkrise des StaatesIII.1. Die aktuelle Haushaltskrise Der Bund und die meisten Länder haben eine enorme öffentlich Verschuldung betrieben und sind mit den Kosten der deutschen Einigung in eine dramatische Finanzkrise geraten, auf die sie bis heute nicht angemessen reagieren. Die explodierenden Kosten der wachsenden Arbeitslosigkeit und des belasteten Sozialsystems werden zunehmend auf die Versicherungsträger selbst und auf die kommunalen und Länderhaushalte abgewälzt, ohne deren Einnahmesituation entsprechend zu verbessern. Die Verschuldung der öffentlichen Haushalte belastet inzwischen die Zukunft der kommenden Generationen. Diese Realität ist für jede Bildungspolitik bitter. Die bündnisgrünen bildungspolitischen Forderungen müssen sich daran orientieren, daß es für diesen Bereich angesichts der Lage der Länderhaushalte vermutlich auf absehbare Zeit keine großen Zuwächse geben wird, zumal die Bildungsausgaben in heftiger Konkurrenz zu den Ausgaben stehen, die durch die wachsende Armut und Arbeitslosigkeit eines Teils unserer Gesellschaft sowie durch ökologische Probleme entstehen. Es wird größter Anstrengungen bedürfen, um angesichts dieser Situation öffentliche Haushalte zu sanieren und zusätzliche Mittel für Bildungsausgaben zu mobilisieren oder aus anderen Bereichen dahin umzuschichten. III.2. Bildung qualitativ verbessern Eine Verbesserung der Bildungseinrichtungen ist auch durch qualitativ neue Formen der Arbeitsorganisation, der Selbststeuerung sowie effektiverer Nutzung der vorhandenen Ressourcen erreichbar (B-1/2). Gerade in Zeiten knapper Mittel ist die Bildungseinrichtung der Ort, an dem entschieden werden muß, wie die ihr zur Verfügung stehenden Mittel am sinnvollsten eingesetzt werden sollen. Durch eine Mobilisierung der Selbststeuerungskräfte, durch eine Entlastung der Lehrkräfte über die Veränderung der Arbeitsorganisation des Arbeitsortes Schule und anderer Bildungseinrichtungen, durch eine glaubwürdige Offenlegung der finanziellen Verhältnisse durch die Bildungspolitik und einen offenen Dialog in der bildungspolitischen Öffentlichkeit ist eine Verbesserung der Qualität der Bildungseinrichtungen auch in Zeiten extrem schwieriger Haushaltslage möglich. III. 3. Ein neuer Bildungsvertrag ist nötig BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wollen in und mit den autonomen Schulen und Hochschulen eine größtmögliche Transparenz der Verteilung der zur Verfügung stehenden Mittel erreichen. Auf dieser Basis einer gerechten Verteilung der Stellen und Mittel sollen die Schulen und Hochschulen versuchen, ein möglichst umfassendes und qualitativ gutes Bildungsangebot zu schaffen. Dabei darf auch vor neuen Wegen nicht zurückgeschreckt werden. In den Schulen kann ein Teil der Personalmittel selbst verwaltet werden (B-1/2). In den Schulen können Eltern, Vereine, Studierende und andere Personengruppen mitarbeiten, um mit den vorhandenen Mitteln eine möglichst gute Bildungsarbeit zu erreichen. Für die Bündnisgrünen gehört zum demokratischen Zusammenschluß mündiger Bürgerinnen und Bürger, daß Menschen bei der Gestaltung ihrer gesellschaftlichen Verhältnisse politisch selbst- und mitbestimmend handeln - auch wenn es um die gerechte Verteilung knapper werdender Ressourcen und möglicherweise um Einschränkungen geht. Wenn Bildungseinrichtungen verbessert und zugleich den nachwachsenden Generationen nicht durch eine weitere Verschuldung alle Gestaltungsmöglichkeiten genommen werden sollen, sind andere Lösungsstrategien als die der 60er und 70er Jahre gefordert. Ein neues Nachdenken über die Wege und Ziele der Bildungseinrichtungen, über die dafür eingesetzten und notwendigen Mittel, steht auf der Tagesordnung. Eine Voraussetzung für die Gestaltung guter Bildungseinrichtungen wird sein, daß die Beteiligten den verantwortlichen Umgang mit Ressourcen auch zu ihrer eigenen Aufgabe machen. Ein neuer gesellschaftlicher Bildungsvertrag muß klarstellen, welche Aufgaben die Bildungs- und Wissenschaftseinrichtungen heute zu erfüllen haben und welche Rahmenbedingungen dafür zu schaffen sind. Die Herausforderungen wachsen - aus ökologischen, ökonomischen und sozialen Gründen. Eine radikale Bestandsaufnahme muß alle bestehenden Institution auf ihre Notwendigkeit, Qualität und Aufgabenerfüllung hinterfragen. In einem neuen Bildungsvertrag muß die Verantwortung für die Gestaltung der Bildungseinrichtungen als gesellschaftlicher Aufgabe stärker den beteiligten Subjekten zugeschrieben werden. Dies gehört essentiell zu einer Weiterentwicklung von demokratischer Teilhabe in unserer Gesellschaft. |