Beschluß der 8. Ordentlichen Bundesversammlung
29.11.-1.12.1996 im Congress Centrum Suhl
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B-G-1 Gegenstand:
Grundsicherung

Gegen Armut und Ausgrenzung –
Die GRÜNE Grundsicherung umsetzen

Das soziale Netz reißt auf. In den vergangenen zweieinhalb Jahrzehnten hat sich die Zahl derer, die zeitweise oder auf Dauer in Armut leben müssen, vervielfacht.
Am sichtbarsten wird diese Armutsentwicklung durch die explosionsartig wachsende Zahl der SozialhilfeempfängerInnen. 1993 haben über fünf Millionen Menschen über kürzere oder längere Zeit Sozialhilfeleistungen bezogen. Der Anteil derer, die auf Sozialhilfe angewiesen sind, hat sich damit von 1970 bis 1993 von 1,2% auf 4,8% der Bevölkerung vervierfacht. Dabei geben diese Zahlen nicht einmal das ganze Ausmaß der Armut wieder; die Armutsforschung geht davon aus, daß gut ein Drittel der Hilfeberechtigten ihre Ansprüche aus Scham oder Unkenntnis gar nicht erst wahrnehmen.

Diese Entwicklung verweist auf die strukturellen Schwächen des sozialen Sicherungssystems. Mit dem arbeits-, tarif- und sozialrechtlich geschützten »Normalarbeitsverhältnis« und der patriarchalen »Normalfamilie« sind die tragenden Säulen des Sozialversicherungssystems brüchig geworden, ohne daß das soziale Netz auf diese Situation neu ausgerichtet worden wäre. Angesichts der Arbeitslosigkeit, der Zunahme geringfügiger Beschäftigungsverhältnisse und des Wandels der Familie bieten die erwerbs- und ehezentrierten Sicherungssysteme für viele Menschen keinen ausreichenden Schutz mehr. Das Risiko, über ganze Lebensphasen seinen Lebensunterhalt nicht mehr selbst bestreiten zu können, reicht mittlerweile bis in Bevölkerungsgruppen hinein, deren materielle Existenz bis vor kurzer Zeit noch als gesichert galt.

Das soziale Netz neu ausrichten
Auf die dramatische Armutsentwicklung hat die Bundesregierung in der denkbar schlechtesten Form reagiert. Anstatt die Signale als Aufforderung zu einer grundlegenden Reform der Armutspolitik zu nehmen, hat sie die Lebensbedingungen von Menschen in Armut weiter verschlechtert.

Wir brauchen das Gegenteil dieser Politik. Wir brauchen den Aufbruch zu einer neuen bürgerrechtlichen Politik der Armutsvermeidung, die Schluß macht mit Ausgrenzung und der Tradition der Armenpolizei. Die Schwächen der bisherigen Sicherungssysteme erfordern einen grundlegenden Wandel, kein Herumdoktern an Symptomen. Und sie erfordern eine Botschaft der Integration: Die Gesellschaft steht zu ihrer Verpflichtung gegenüber Menschen in Armut, sie entwickelt neue Solidarität anstatt sie aufzukündigen.

Wir setzen damit einen Kontrapunkt zu einer gewollten politischen Entwicklung, die nicht nur die Armut in dieser Gesellschaft hat sprunghaft wachsen lassen, sondern gleichzeitig den privaten Reichtum in den Händen weniger rasant vermehrte; einer Politik, die bei wachsender Massenarbeitslosigkeit die Sozialleistungsquote senkte.

Damit das System der sozialen Sicherung neue und andere Belastungen als bisher tragen kann, wollen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN das soziale Netz neu justieren. Zu den notwendigen Reformprojekten gehören u.a. ein bedarfsgerechter Kinderlastenausgleich, die soziale Absicherung von Arbeitszeitverkürzungen und die eigenständige Alterssicherung von Frauen. Bestandteil dieser Sozialreform muß aber auch ein Mindestsicherungssystem sein, das mit der armenpolizeilichen Tradition der Sozialhilfe bricht und sozialstaatlichen und bürgerrechtlichen Anforderungen gerecht wird.

Die Grundsicherung umsetzen – jetzt!
Angesichts der Defizite des sozialen Sicherungssystems und der Sozialhilfe ist die Forderung nach einer bedarfsorientierten Grundsicherung schon seit vielen Jahren das zentrale sozialpolitische Reformprojekt von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. Angefangen mit dem grünen Umbauprogramm bis hin zum Wahlprogramm 1994 gehört die Grundsicherung zur grünen Programmatik.

Diese programmatischen Forderungen müssen heute politisch umgesetzt werden. Die Vorbereitung auf die Ablösung der Kohl-Regierung 1998 zugunsten eines grundlegenden ökologischen und solidarischen Politikwechsels erfordert, daß wir rechtzeitig unsere problemgerechte und realitätstüchtige Konzeption für eine bedarfsorientierte soziale Grundsicherung konkretisieren. Angesichts der Dramatik der Armutsentwicklung und der sozialen Ausgrenzung ganzer Bevölkerungsteile erwarten die Betroffenen von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ein konkretes Handlungskonzept. Die Menschen wollen wissen, was 1998 sie bei einer GRÜNEN Regierungsbeteiligung zu erwarten haben – von leeren Versprechungen á la Blüm (»die Renten sind sicher«) haben sie zurecht die Nase voll.

Dissens – Konsens in der Diskussion um die Grundsicherung
Schon im Jahre 1993 hat ein Eckpunktepapier des Bundesvorstandes zur Grundsicherung sich an dieser Konkretisierung versucht. Ungelöst blieb neben vielen Detailfragen damals die Höhe des Gundsicherungniveaus, die daraus resultierenden Gesamtkosten sowie ihre Finanzierung, was in der Fomulierung der Reformprojekte zur Bundestagswahl durch eine Schätzung ausgeglichen wurde.

Einen neuen Beitrag zur Umsetzung der Reformidee einer bedarfsorientierten Grundsicherung hat eine AutorInnengruppe aus Bundes- und LandespolitikerInnen im Oktober 1996 mit dem Aufruf zur Diskussion ein Diskussionspapier zu einem GRÜNEN Grundsicherungsmodell vorgelegt. Der Versuch, die Schwächen des Eckpunktepapiers zu überwinden und in Zeiten, wo alle Welt vom Abbau von Sozialleistungen redet, eine neue Form gesellschaftlicher Solidarität zu schaffen, ist nachdrücklich zu begrüßen.

Aber schon die ersten Diskussionen haben gezeigt, daß sich an diesem Papier Auseinandersetzungen entzünden. Strittig sind unter anderem das Grundsicherungsniveau, die Art und Weise seiner Festsetzung, das Verhältnis von Grundsicherung und Erwerbseinkommen (und ihrer Besteuerung), die vorgeschlagene Pauschalierung von Mietkosten, die Behandlung nichtehelicher Lebensgemeinschaften und auch die Aufteilung der Finanzierungsverantwortung zwischen Bund, Ländern und Kommunen.

Doch bei allen Differenzen im Detail zeigt sich, daß die Grundsicherung das zentrale sozialpolitische Reformprojekt der gesamten GRÜNEN Partei ist und bleibt. Für BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hat die Leitidee sozialer Integration gerade unter sich ändernden sozialen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen Bestand. Gemeinsam setzen wir alles daran, die neoliberale Hegemomie in der Sozialstaatsdebatte endlich zu brechen.

Daß wir für die Finanzierung der Grundsicherung erhebliche zusätzliche Finanzmittel mobilisieren wollen, ist unter uns unbestritten. Deshalb wird an der stärkeren Belastung der Vermögenden durch eine Reform der Erbschafts- und Vermögenssteuer kein Weg vorbeiführen.

Das Bewußtsein dieser gemeinsamen Ziele und Vorstellungen wird auch den Charakter des weiteren Diskussionsprozesses bestimmen.

Der Diskussionsprozeß
Das Diskussionspapier der AutorInnengruppe ist Anfang Oktober an alle Kreisverbände, Landesvorstände und Landtagsfraktionen von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN verschickt worden. Es hat eine erste Diskussion auf dem Strategiekongreß in Hannover hierzu gegeben. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Arbeit, Soziales, Gesundheit hat eigens zu diesem Thema eine Unterarbeitsgruppe eingerichtet. Die Bundestagsfraktion wird in enger Abstimmung mit der BAG zu Beginn des kommenden Jahres einen Grundsicherungs-Kongreß abhalten.

Die Bundesversammlung begrüßt diesen neuen Diskussionsprozeß. Sie beauftragt den Bundesvorstand, eine Arbeitsgruppe zu bilden, die sich auf Grundlage des Diskussionspapiers und des Eckpunktepapiers von 1994 mit der umsetzungsorientierten Weiterentwicklung des grünen Grundsicherungsmodells befaßt und die verschiedenen Diskussionen in der Partei koordiniert.

Dabei sind insbesondere folgende Fragen einer Klärung zuzuführen:

Es soll damit sichergestellt werden, daß nach einem eingehenden Diskussionsprozeß in der Partei, in den andere gesellschaftliche Gruppen wie externe Fachleute einzubeziehen sind, auf der nächsten Bundesversammlungen 1997 ein Beschluß über das GRÜNE Grundsicherungsmodell erfolgen kann.


© BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 1996
Letzte Änderung: 16.12.96